Donnerstag, 19. März 2020

Brief 863 vom 18.3.45


Mein allerliebster Ernst!                                                                                             18.3.45     

 Eigentlich wollte ich gestern Abend noch schreiben, aber ich war dann so müd, daß ich überhaupt nicht mehr konnte. Ich war ja am Morgen am Tabor, dann mit dem Rad bei Hegne und am Nachmittag in der Stadt. Da läßt sich das schon verstehen. In der Stadt habe ich ja das meiste von dem, war ich wollte, nicht bekommen. Aber es mützt nichts, man muß doch immer wieder nachfragen.  Nun möchte ich noch Deine lieben Briefe fertig beantworten. Ich kann garnicht begreifen, daß Papa das auf die Dauer aushält, wenn Lotte immer jammert. Mama war doch gerade das Gegenteil und wenn sie sich ja einmal erlaubte, über etwas zu klagen, da hat Papa gleich geschnauzt. Ich denke nur daran, was mir Alice erzählte. Sie waren bei den Eltern in Mockau. Mama war es nicht gut und sie bat, daß sie daheim bleiben dürfte.  Papa war erbost, daß sie nicht mit spazieren gehen wollte und sagte: Was hast Du denn dauernd. Wenn Du überhaupt nichts vertragen kannst, dann stirb lieber.“ Mama hat ihn nur groß angeschaut und ist raus gegangen. Draußen hat sie geweint und Alice hat Papa dann Vorwürfe gemacht. Er hat ja nachher eingesehen, daß er Unrecht hatte. Aber Lotte ist so viel jünger und jammert ihm jetzt dauernd die Ohren voll. Die Verbindung zwischen Leipzig und konstanz ist scheinbar nach beiden Richtungen hin nicht besonders gut, denn auch wir mußten ja lang auf Nachricht von Dir warten. Wie es scheint, wird aber Feldpost schneller befördert. Hoffentlich hast Du nicht mehr so lange auf Nachricht warten müssen.  Es hat mich interessiert, daß sich der Hans Krall hat ferntrauen lassen. Ich habe garnicht gedacht, daß das auch in der Gefangenschaft geht  Du bist ein lieber Kerl, daß Du sogar an meine Taschentücher gedacht und mir ein halbes Dutzend gekauft hast. Wie bist Du dazu bekommen ohne Punkte? Jedenfalls danke ich Dir recht sehr dafür. Wieso bist Du eigentlich länger in Hamburg geblieben?  Ich dachte, es wär garnicht anders gegangen. Un hättest Du schon eher forfahren können?  Unsere Stadt ist jetzt wirklich eine richtige Lazarettstadt geworden. Alle Hotels, die Krone, Hecht usw. sind Lazarette, eins für Augenverletzte, das ander für Amputierte, das dritte für Nervensachen. Und so geht es weiter. Auch die Schulensind als Lazarette eingerichtet. Unterwegs sieht man auch viele verwundete Soldaten.  Jetzt kommen hier öfter die großen schweizer Lazarettwagen und Lastwagen durch. Sie holen die Schweizer aus dem Reich nach der Schweiz. Die Autos haben weiße Planen mit eienm großen schweizer Kreuz darauf. Es fährt immer eine ganze Kolonne zusammen.  Heute Nachmittag wil Helga mit Ingrid und ihrer Schulfreundin Hilde Zeller ins kino gehen. Der Meineidbauer wird gespielt. Mich hat Resi gefragt, ob ich nicht ein bißchen zu ihr hinkommen will. Jörg geht vielleicht mit.  Laß mich nun wieder schließen. Ich grüße und küsse Dich recht herzlich 

Deine Annie. 

Liebes Vaterle, denke Dir, ich gehe heute mittag mit der Ingrid und Hilde ins Kino. „Der Meineidbauer“ wird gespielt. Die Hauptsache ist, daß wir rein kommen. ABer es wird schon klappen. Viele Grüße und tausend Küsse von Deiner Helga. 

Liebers Vaterle! Da Helga heute nachmittag ins Kino geht, gehe ich mit Mutterle zu Tante Resi, sonst bin ich so allein daheim. Viele Grüße und 1000.000.000.000.000 Küsse von Deinem Jörg.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen