Donnerstag, 19. März 2020

Brief 815 vom 1.11.44


Liebster, bester Ernst !                                                                                       1.11.44    

Zuerst muß ich mich entschuldigen, daß ich Dir gestern nicht geschrieben habe. Ich bin vom nähen gekommen und hatte noch verschiedenes zu tun. Dann sind wir auch zeitig ins Bett gegangen.  Heute Vormittag habe ich die ganze Zeit an einem Kleid von Helga genäht. Es war ihr zu klein und auch verschiedentlich entzwei. Nun habe ich es erneuert, habe einen Koller angesetzt, neue Ärmel und Kragen und unten einen Streifen, sowie neue Taschen an und aufgesetzt. Und weißt Du, von welchem Stoff? Von dem blauen Verdunklungsstoff von Dir.  Eine große Überraschung und Freude habe ich heute gehabt, denn ich habe auf einmal 5 Briefe von Dir erhalten, Nr. 93/97 vom 21./25.10.  Mich hat es auch zuerst geärgert, als Papa so voll Lobes für Lotte war, weil sie aufgestanden war, als sie sich am Bein verletzt hatte. Wir kennen sie ja. Sie hat bestimmt furchtbar gejammert und Papa dann beigebracht, daß sie im zuliebe nur aufsteht. So schlimm kann es nicht gewesen sein, wenn sie gleich zum Laienhelferinnenkurs gehen konnte. Mama hat sich nie war merken lassen, wenn ihr was fehlte, darum war es selbstverständlich, daß sie alles schaffte. Aber Lotte hat Papa schon dressiert. Schicke doch bitte in manchen Umschlägen nicht so viele Sachen auf einmal zurück. Die Umschläge reißen jedes Mal. Heute kam der mit einigen Briefen und den Bilder von Athen auch an 2 Seiten neu zugeklebt an, mit dem Stempel „In Karlsruhe beschädigt eingegangen, amtlich verschlossen.“ Die Umschläge sind nicht so haltbar und halten die lange Reise nicht aus.  Ich hatte Helga schon von mir aus nicht gleich zum Arbeitseinsatz gehen lassen, da sie ja die ganzen Wochen vorher tüchtig schaffen mußte und sich ein wenig ausruhen sollte. Ausserdem gab es ja auch hier noch manches zu tun. Inzwischen ist ja nun die Schule wieder angegangen.  Jörg hat gestern zum Abschluß nochtmals 10 Mk vom Leirer heimgebracht, sodaß er im ganzen 20 Mk verdient hat. Helga habe ich für ihre Arbeit den gleichen Betrag gegeben. Das hat sie natürlich gefreut.  Lieber Ernst! Mach Dir doch keine Sorge um unsere Ernährung. Es langt uns wirklich, wir hungern nicht, gewiß nicht. Die Broteinschränkung merke ich nicht, da Jörg bis zum August ja viel weniger erhielt und jetzt vom 10.Jahr soviel bekommt wie Helga. Das ist mehr als ich bisher erhielt und den Kindern ist ja nicht abgezogen worden. Für die fehlende Butter erhalten wir Fleisch und es läßt sich schon einteilen. Wir haben ja Kartoffeln. Also bitte, mach Dir keine Sorgen. Wenn die Ernährung so bleibt, so wollen wir froh und dankbar sein.  Du erwähnst in Deinem Brief verschiedene schöne Bücher. Vielleicht bekomme ich das eine oder andere mal in der Bücherei.  O ja, lieber Ernst, Du fehlst uns immer. Aber man schreibt es nicht immer, da man sich nur das Herz damit schwer macht. Richtig von Herzen froh kann ich ja auch erst wieder sein, wenn du bei uns bist. Du weißt ja, welch schöne Jahre wir schon zusammen verleben durften. Es ist mein größter Wunsch, daß wir alle zusammen noch viele Jahre zusammen sein können. Reichtümer hatten wir nie und waren doch froh. Wir würden uns auch weiterhin alles schön einrichten.  Es ist wirklich für Dich schwer, wenn Du entscheiden sollst, ob ich die Luftschutzsachen unten lassen oder raufholen soll. Ich werde sie wahrscheinlich doch noch unten lassen. runtertragen könnte ich sie bei Alarm doch nicht. Ich muß eben immer wieder nachschauen, wie sich alles hält.  Beim nähen war es heute wieder schön. Wir haben solch eine ulkige Nudel dabei, die erzählt alles so trocken, daß die Stunden im Flug vergehen und man dabei gut schaffen kann. 7 Jacken habe ich heute gemacht. Nun habe ich ja wieder ½ Woche frei. Morgen habe ich erst mal große Wäsche.  Etwas habe ich Dir immer vergessen zu schreiben, nämlich daß ich schon seit geraumer Zeit Hochfrisur trage. Nach allgemeinem Urteil (das unserer Kinder eingeschlossen) sehe ich so jünger und netter aus. Außerdem brauche ich nicht zum Friseur. Sollte ich Dir, wenn Du heim kommst, nicht gefallen, so läßt sich die Frisur ja schnell ädern.  Von Papa erhielt ich gestern ein Zeitungspaket. Außerdem waren 1 Paar Holzpantoffeln und 1 Dose Handwaschmittel drin. Dieses wäscht wirklich vorzüglich. Heute kam ein Brief von Papa mit verschiedenen Briefmarken an. Nun laß mich wieder schließen. Ich möchte gern noch verschiedenes mit Dir plaudern, aber im schreiben bin ich nicht so gewandt und es steht dann immer viel nüchterner alles da als ich möchte. Ich hoffe aber immer wieder, daß Du mich schon richtig kennst und meine Liebe zu Dir auch so durch meine Zeilen spürst. Bleib auch weiterhin gesund, lieber, mein lieber Ernst und laß Dich grüßen und küssen von 

Deiner immer an Dich denkenden Annie.

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