Montag, 29. Januar 2018

Brief 510 vom 29.1.1943


Mein liebster  Ernst!                                                          Konstanz, 29.1.43

Wenn dieser Brief in Deine Hände kommt, wirst Du sicher schon einige Tage im Besitz meiner gestrigen Zeilen sein, in denen ich Dir mitteilen musste, dass Kurt gefallen ist. Man kann es noch gar nicht glauben. Vor kurzem war er doch noch hier. Ich sehe ihn noch vor mir, als er auf Urlaub kam. Ganz bepackt kam er an. Er saß dann noch eine Weile am Tisch und erzählte. Ganz gegen seine Gewohnheit von früher. Ich weiß auch noch so genau, wie wir an die Bahn gegangen sind und wie er abfuhr. Nun liegt er schon in fremder Erde. Man kann sich das gar nicht vorstellen.
Gestern Abend so gegen ½ 9 Uhr klingelte es. Ich habe die Haustür aufgeschlossen, da war es Vater. Er machte erst so Handbewegungen, dass ich gleich merkte, es musste etwas geschehen sein, und dann sagte er  „Kurt ist tot.“ Glaubst du, ich konnte es nicht fassen. Die Kinder kamen gleich wieder aus den Betten gesprungen, als sie hörten, was geschehen war. Wir haben alle geweint. Ich sagte dann zu Vater, dass ich gleich zu Paula runter gehen wollte, denn sie hängt doch auch sehr an ihm. Auf der Treppe kam sie mir entgegen, und als ich ihr die Nachricht brachte, setzte sie sich gerade auf die Treppe und weinte. Sie sagte dann, ich sollte doch mit in die Stube kommen Da hat sie dann erst sehr geweint, ehe sie den Brief lesen konnte, den ich ihr mitgenommen hatte. Sie sprach von seinem letzten Urlaub und wie schwer er wieder fort gefahren sei. Er habe gar nicht fort wollen. Ich fragte dann, ob sie vielleicht an Nanni schreiben könnte. Sie meinte, vielleicht sei es am besten, sie würde selbst hinfahren. Sie könnte sich gar nicht denken, wie Nanni es aufnehmen würde. Sie befürchtete, dass sie krank wird. Sie habe ihr im letzten Brief geschrieben, sie habe sich sehr gefreut, dass er sie in seinem letzten Urlaub besucht habe. Sie habe ihn ungern wieder gehen lassen und es sei ihr gewesen, als habe sie noch etwas an ihm versäumt.
Ich bin dann wieder zu uns gegangen. Vater saß mit den Kindern in der Stube. Ich habe dann die Kinder zu Bett gebracht und habe dann mit Vater noch zusammen gesessen. Vor allen Dingen haben wir an Dich geschrieben. Es ist da so schwer, zu schreiben. Man ist zuerst wie betäubt. Für Dich wird es hart gewesen sein, als Du die Nachricht bekamst. Vater sagte, es würde ihm doch auch nichts erspart. Nun sei es schon das zweite Mal, dass er die Nachricht vom Tode eines seiner Kinder erhalten habe. Er habe zu gar nichts mehr Lust, mag alles kommen, wie es will. Er habe sich schon manchmal überlegt, wie lange Jahre es wohl noch dauern werde, bis er einmal stirbt.
Lieber Ernst, ich warte jetzt direkt auf einen Brief von Dir. Es ist, als wäre ich dann nicht mehr so allein, als würdest Du mit mir reden.
Lieber Ernst, bleib Du gesund und komm immer gesund wieder heim. Das ist mein größter Wunsch.
Lass mich für heute schließen. Morgen schreibe ich sicher wieder mehr. Recht viele Grüße und Küsse von Deiner Annie.

P.S.: Sobald wir die amtliche Bestätigung haben lässt Vater eine Todesanzeige in die Zeitung setzen, denn Kurt hatte ja Bekannte, die wir nicht persönlich kennen.

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