Mein liebster, besterErnst! Konstanz, 14.12.42
Bis jetzt war Vater hier und ich konnte nicht gut schreiben,
denn er hat mir von seinem Betrieb erzählt. Aber jetzt, es ist ¼ 10 Uhr, will
ich mir Schreiben beginnen, denn ich habe Dir ziemlich viel zu erzählen. Erst
mal sind Deine lieben, langen Briefe vom 29.11. und 1.12. angekommen. Und auch
das Päckchen Nr.48 ist eingetrudelt. Es hat also schön brav seinen Weg hierher
gefunden. Ich dachte erst, jemand hätte wieder eine besondere Nase dafür
gehabt, dass da was zum Naschen drin war. Ich danke Dir für die schönen Sachen
sehr. Du, Ernst, die Pralinen nehme ich für mich. Die Kinder bekommen von der
Sonderzuteilung jeder auch ½ Pfund Pralinen und ich habe ¼ Pfund Bonbons
bekommen. Da hat dann jeder Pralinen und Bonbons. Die Letzteren werde ich ja
meist den Kindern überlassen, damit sie immer was zum Lutschen haben, denn die
Pralinen essen sie ja doch bald hinter. Aber auch die Bonbons teile ich ein.
Du hast Recht, wenn Du schreibst, es ist gut, dass die Tage
so schnell vergehen, aber man wird auch älter dabei. Da habe ich schon manchmal
daran gedacht. In dieser Beziehung möchte man die Zeit wieder festhalten. Aber
es nützt ja alles nichts, sie geht weiter, im Guten, wie im Bösen. Jetzt heißt
es für uns nur durchhalten.
Jörg versucht auch jetzt ab und zu noch, seinen Kopf
durchzusetzen. Wenn das gute Zureden nicht hilft, gibt es dann eben Wichse,
wenn ich auch sehr ungern tue. Mir ist das allerliebste, es geht friedlich und
froh bei uns zu. Aber immer ist das eben doch nicht durchzuführen. Kinder sind
Kinder, die müssen einen auch wieder einmal ärgern. Das wäre ja fast
unheimlich, wenn sie ganz brav wären. Aber das muss ich sagen, wenn er einmal
Wichse bekommen hat, und ich rede dann mit ihm, sieht er auch ein, dass er im
Unrecht war. Das freut mich dann wieder und wir sind auch bald wieder fröhlich
zusammen. Denn auch ich trage ihm nichts nach.
Ihr habt ja eine sehr schöne Adventsfeier gehabt. Das hat
mich sehr gefreut, als ich es gelesen habe. Da war es doch ein wenig heimelig.
Mit Freude habe ich auch gelesen, wie Du Dich daran erinnerst, wie wir immer
einen Adventskranz gehabt haben. An die Kirchstraße kann ich mich auch noch gut
erinnern. Ich bin da so schnell gelaufen, weil ich gleich wieder heim musste,
weil Papa es nicht wissen durfte. Aber gefreut hattest Du Dich doch über den
Adventskranz. Dieses Jahr haben wir keinen gemacht, jedenfalls keinen großen.
Wir haben den Stern auf dem Tisch stehen, den wir Dir mal nach Frankreich
geschickt hatten, und in der Mitte ist ein kleines Kränzchen, genau, wie bei
Dir damals.
Es ist sehr schade, das der Inspektor, mit dem Du Dich gut
vertragen hast, weggekommen ist, vor allen Dingen, wenn sein Nachfolger solch
einen Spleen hat. Wenn es den anderen hohen Herren bis jetzt recht war, dass Du
mit im Kasino gegessen hast, da braucht er, der doch ganz neu dort ist, sich
auch nicht aufzuregen. Hoffentlich ist er im Arbeiten genau so eifrig. Du hast
jedenfalls bisher Deine Sachen bisher immer zur Zufriedenheit gemacht. Aber es
gibt überall solche Leute. Davon werde ich Dir noch weiter unten schreiben.
Es tut mir Leid, dass die vorigen Granatsplitter gar nicht
mehr so appetitlich waren. Hoffentlich sind die jetzigen, die ich Dir
mitgeschickt habe, besser. Es ist ja eigentlich nur eine Kostprobe.
Du hast nun den Wunsch geäußert nach einem Ständer für
Deinen Füllfederhalter. Ich habe heute auch einen bekommen. Er ist zwar ganz
einfach, aber ich denke, dass er einstweilen seinen Dienst tun wird. Später,
wenn es wieder mehr Auswahl gibt, könne wir Dir ja einen anderen kaufen.
Hoffentlich freut er Dich doch ein Bisschen. Sobald die Sperre aufgehoben wird,
am 25. Dezember, schicke ich ihn weg. Gefreut hat es mich, dass ich Dir
wenigsten einen kleinen Wunsch erfüllen konnte.
Ich bin wie Du der Meinung, dass wir uns aus dem Streit
wegen Alices Vater heraushalten. Oft schreiben wir uns ja sowieso nicht. Ich
habe ihr zum Geburtstag auch nur eine Karte geschrieben. Übrigens an Erna
schreibe ich heute auch noch eine Geburtstagskarte, sie hat am 18. Geburtstag.
Jetzt haben Sie gerade im Radio „´s ist Feierabend“
gespielt. Wenn ich das Lied höre, kann ich einfach nichts mehr tun. Es ist mir,
als wäre ich in Leipzig und sähe Mama im Sarg liegen, ganz deutlich sehe ich
das. Und dann das Begräbnis. Ich sehe bei diesem Lied immer das Bild an, das
mir gegenüber hängt. Da schaut mich meine Mutter so richtig an. Es wird mir
ganz weh und es fällt mir schwer aufs Herz, dass ich sie in diesem Leben gar
nicht mehr sehen soll. Sie war doch so gut und ich habe sie so lieb gehabt. Ich
bin immer wieder froh, dass wir im vorigen Jahr noch in Leipzig waren und dass
ich sie noch leben gesehen habe nach mehreren Jahren.
Doch ich will jetzt Deinen Brief weiter beantworten. Mich
würde es freuen, wenn Jörg schwimmen könnte, aber ihn zu zwingen hat keinen
Zweck. Das muss mit Freude geschehen. Ich denke, dass er es vielleicht im
Sommer, wenn er nicht so friert, besser lernt.
Ich will Dir noch vom heutigen Tag erzählen. Vom Morgen ist
eigentlich nicht viel zu berichten. Ich habe genäht. Gegen Mittag zu dachte
ich, was koche ich denn nur heute- Die Fleischkarte wollte ich noch nicht
anreißen, sonst langt es nicht, Gemüse hatten wir gehabt. Also was? Da kam mir
die Idee, ich könnte rohe Klöße machen, dazu eine gute Soße und zum Ergänzen
des Nährwertes einen Pudding. Gedacht, getan. Als Jörg um 11 Uhr heim kam, war
seine erste Frage „was gibt´s zu Mittag?“. Das ist überhaupt immer seine erste
Frage, ob er um 10, 11 oder 1 Uhr heim kommt. Als ich sagte rohe Klöße, ging
ein Indianergeheul „uhuhuh“ los. Dann meinte er „Wir haben heute in der Schule
den Film „Tischlein deck Dich“ gesehen. Da gab es auch Klöße. Da hab ich
gedacht, wenn es doch bei uns auch mal welche gäbe und nun machst Du schon
welche. Ich freue mich, ich freue mich.“ Als er dann noch den Pudding sah,
kannte seine Freude keine Grenzen. Helga hatte genau so große Freude.
Am Nachmittag habe ich eingekauft. Heute außer dem Üblichen
die Sonderzuteilung. Den Bienenhonig habe ich bekommen, die Pralinen, Bonbons,
Hülsenfrüchte (Erbsen), Bohnenkaffee, Zucker, Mehl. Das andere kommt Ende
dieser Woche. Backen kann ich jetzt jedenfalls. Weihnachten ist ja auch nicht
mehr weit.
Ich schrieb Dir ja schon, dass wir evtl. ins Märchenspiel
gehen wollen. Das wird am nächsten Samstag wieder gespielt. Ich wollte gleich
Karten besorgen, aber die Kasse war erst ab 5 Uhr auf. Also bin ich erst
heimgefahren, habe meine Sachen abgeladen und bin nach einer Weile nochmals hin
zum Theater. Da habe ich dann auch 3 Karten erhalten.
Als ich kaum wieder daheim war, kam Vater. Er war ja heute
in seiner neuen, vorübergehenden Arbeitsstelle. Es hat ihm nicht so schlecht
gefallen, nur etwas kühl ist es ihm gewesen. Die Stelle ist in Wollmatingen.
Gleich früh hat Vater nicht angefangen, da er der Meinung ist, dass es ihm nie
Glück bringt, wenn er montags beginnt. Am liebsten wäre er heute überhaupt
nicht gegangen, aber das ging ja nicht. Darum meinte er, das Glück zu zwingen,
wenn er erst später angefangen hat.
Während wir erzählen, höre ich draußen Schritte und es
klingelt. „Das ist Kurt“, sage ich, denn ich kenne doch seine Schritte.
„Ausgeschlossen“, meint Vater. Aber er war es doch. Ganz bepackt kam er an.
Paula war nicht daheim gewesen, darum kam er erst mal zu uns. Kurt hat schon
einige Tage Urlaub, aber er ist auf der Herfahrt erst noch bei Nanni und dann
in Blankenloch gewesen, wo sie ihn am liebsten nicht weiterfahren lassen
wollten. Von Nanni brachte Kurt Weihnachtsgeschenke für die Kinder mit. Für
Jörg ein Buch „Der schwarze Geier“ von Will Parker und für Helga eine Kette (ich
glaube, es ist echt Silber) mit einem dreieckigen Bernsteinanhänger. Das ist
doch nett von ihr. Kurt sagt, Nanni ginge es insoweit nicht gut, dass sie fast
nie schlafen kann.
Kurt war heute gesprächiger, als sonst. Er erzählte, wie
einmal die Russen bei ihnen durchgebrochen sind, und wie sie zurückgeschlagen
wurden. Er erzählte, wie er mit einigen anderen Minen verlegt hat und wie in
seiner Nähe 2 Mann völlig zerrissen wurden. Sie haben nachher die einzelnen
Stücke zusammenlesen müssen. Es sei schaurig gewesen. Köpfe seien überhaupt
nicht mehr da gewesen. Er erzählte auch vom Leben in den Bunkern im
Allgemeinen, von der Ratten-, Mäuse und Läuseplage. Nun wollte ich eigentlich
schreiben, wie es überall mal blöde Kerle gibt, die nichts können, als nur die
anderen schikanieren. Aber das kann ich Dir später vielleicht lieber mal
erzählen. Man weiß nicht, in welche Hände manchmal so ein Brief kommen kann.
Die Kinder haben sich gefreut, als Kurt kam. Jörg hat viel
auf seinem Schoß gesessen. Beide meinten, jetzt solltest Du nur noch kommen,
dann wäre es ganz schön. Aber damit ist ja leider nicht zu rechnen. Wir haben
den Urlaub schon hinter uns, aber der war auch schön. Mit dem Wetter hast Du es
jedenfalls noch besser getroffen. Urlaub hat Kurt gerade noch über Weihnachten.
Kurt hatte nochmal 2 Päckchen geschickt mit Rauchwaren. Ich
schrieb Dir davon. Eins nur mit Zigaretten. Ich hatte mich doch bei Vater entschuldigt,
dass ich es auf gemacht hatte, aber es war ja mit meiner Adresse versehen.
Vater hat mir doch welche abgegeben für Papa und Siegfried. Heute Abend fragt
Kurt auf einmal „Das Päckchen mit den Zigaretten hast Du doch noch.“ „Nein,“
sage ich, „das habe ich Vater gegeben und er hat mir einen Teil für Papa und
Siegfried geschenkt.“ „Das ist schade“, meint Kurt, „die hatte ich extra für
Hagnauers Kurt gekauft.“ Vater meinte dann, er gäbe sie ihm wieder, er habe
noch keine geraucht. Die würden schon noch langen. Die Einzigen, die den Profit
haben, sind eigentlich Papa und Siegfried. Die sind zu Zigaretten gekommen, und
ich zu einem Geschenk. Es war mir ja ein Bisschen peinlich, aber ich kann auch
nichts dafür. Wenn Rauchwaren an mich kommen ohne eine Anmerkung, denke ich
natürlich, sie sind für Vater bestimmt. Ja, ja, so passieren Sachen.
Ich habe Vater und Kurt je 2 Kümmel gegeben, zu einem
Begrüßungstrunk. Du wirst sicher nichts dagegen haben.
Wie ich von Helga hörte, ist Fritz Bautz seit Donnerstag auf
Urlaub da. Ich bin gespannt, ob sie sich einmal sehen lassen.
Jörg erzählte heute, dass sie in der Schule am Adventskranz
die Kerzen angebrannt hätten und die Lehrerin hat gesagt, am Samstag, dem
letzten Schultag, hätten sie nur eine Stunde Schule und da brauchten sie keinen
Schulranzen mitzubringen, da würde sie ihnen Märchen vorlesen. Da hatte er eine
mächtige Freude. Nur Helga war sehr traurig. Sie meinte, alle Klassen hätten
die Zimmer geschmückt und bekämen mal eine Geschichte erzählt. Zu allen Klassen
wäre auch der Nikolaus gekommen, nur zu ihrer Klasse nicht. Ihre Lehrerin hätte
für sowas überhaupt kein Interesse. Das finde ich ja auch nicht ganz richtig.
Kinder haben doch so etwas gern. Zum Trost haben wir heute bei unserem
Kränzchen, bzw. Stern einmal alle Lichter an gebrannt. Wir hatten es früher um
Weihnachten rum auch schön in der Schule. Wir hatten die Tafel mit Tanne
geschmückt, führten meist ein Theaterstück in der Klasse auf und am letzten Tag
durften wir sogar unsere Puppen mitbringen. Auch stellten wir dann an jeden
Platz eine Kerze und sangen Weihnachtslieder. Das sind noch schöne
Erinnerungen. Dass eine Frau so vollkommen nüchtern sein kann, das verstehe ich
nicht.
Doch nun Schluss für heute. Morgen Nachmittag geht’s zum
Zahnarzt. Nicht gerade zur allgemeinen Freude. Aber es ist leider eine
Notwendigkeit.
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