Mein liebsterErnst! Konstanz, 21.12.42
Ich sitze jetzt, es ist ½ 10 Uhr, während des Alarms hier
und fange an zu schreiben. Eigentlich wollte ich schon vor über einer Stande
anfangen, aber da fing die Sirene an und da die Flugzeuge in mehreren Wellen
ziemlich dicht bei uns vorbei flogen, sind wir bis jetzt in den Keller
gegangen. Jetzt hört man schon seit längerer Zeit nichts mehr. Da es doch
ziemlich kalt unten ist, sind wir einstweilen wieder in die Wohnung gegangen,
bis man wieder was hört oder bis Entwarnung ist. Helga sitzt am Tisch und malt
und Jörg räumt seinen Baukasten ein. Stell Dir vor, Leimenstolls erzählen
gerade im Keller, dass 3 Buben, 2 aus der Austraße und einer aus den Baracken
mit Namen Mühlbacher, Pfister und Zunker, den Schnellzug bei Radolfzell in die
Luft sprengen wollten. Die Patronen, 3000 Stück, hatten sie in der Kaserne
gestohlen. Die 2 ersten Buben sind schon abgeholt worden und kommen
wahrscheinlich in eine Erziehungsanstalt. Was mit dem dritten, dem Zunker ist,
wussten sie nicht so genau.
Heute Morgen habe ich einmal ausgeschlafen. Bis 8 Uhr bin
ich liegen geblieben. Kurz vorher kam aber auch Jörg wieder an und fragte, ob
ich nicht aufstehen würde. Heute war es ja nicht wegen Streuselkuchen, sondern
er hatte einfach keine Lust mehr zum Liegenbleiben. Ich habe dann wieder meine
übliche Arbeit getan und auch Verschiedenes gewaschen, Essen gekocht usw. Als
wir beim Mittagessen waren, kam Kurt. Er ist dann ein Weilchen da geblieben,
später ist er auf den Speicher gegangen und hat in seiner Kiste gekramt. Helga
hat ihm dabei Gesellschaft geleistet und hat auch was geerbt, einen Stopfpilz
und Federn.
Ich habe heute verschiedene Weihnachtskarten geschrieben, an
Erna, Papa, Alice, Dora und Tante Agnes. Da hätte ich bald vergessen, Dir zu
schreiben, dass ja heute ein Päckchen von Erna angekommen ist. Es war darin 1
Vase, 1 ledernes Täschchen für einen Spiegel und ein lederner Kammbehälter mit
Kamm, sowie ein Buch für Jörg „Der Zirkusreiter“.
Von Dir erhielt ich heute einen Brief mit Umschlägen und 1
Film. Außerdem am Nachmittag Deinen lieben Brief vom 13.12. Du schreibst, dass
Du schon wieder umziehen musstest. Wohin weiß ich ja noch nicht, denn ich hatte
bisher nur die Briefe bis zum 8. Erhalten. Die dazwischen liegenden werden
sicher in den nächsten Tagen ankommen. Schön ist ja die dauernde Umherzieherei
nicht, denn man weiß überhaupt nicht, wo man eigentlich hin gehört. Sehr freuen
würde ich mich ja, wenn Du wirklich Radio bekommen würdest. Das wäre Dir doch
in den Winterabenden eine schöne Unterhaltung. Aber Du hast Recht, lieber nicht
vorher freuen, es kommt doch immer was dazwischen.
Es ist wirklich schade, dass Du nicht sehen kannst, wie sich
die Kinder auf Weihnachten freuen. Ihre Gespräche kreisen jetzt meist darum.
Das Warten dauert ja nun nicht mehr lange, nur noch 3 Mal schlafen, wie sie
heute Morgen festgestellt haben.
Ich will schon immer fleißig weiter sparen, denn wenn der
Krieg einmal aus ist, und wir noch alle gesund sind, so wird doch manches
anzuschaffen sein.
Dich freut es also auch, dass mich Helga beim Waschen so
schön unterstützt hat. Aber was das andere anbelangt, so hast Du bestimmt
falsch gelesen, denn Helga hat doch geschrieben, dass ich blaß (nicht blau)
ausgesehen habe und dass ich so eine Art Hexenschuß hatte. Das ist nun aber
schon lange wieder vorbei. Du kennst ja sowas selber und weißt, wie schnell
sowas mal kommt, aber auch wieder geht. Du brauchst Dir also wirklich keine
Gedanken zu machen. Ich bin gesund und fühle mich wohl. Solche kleinen
Erkältungen mit Schnupfen sind ja nichts Besonderes. Mit der Heizung spare ich
nur insoweit, als ich nicht unnütz heize, aber richtig warm haben wir es immer.
Darauf kannst Du Dich verlassen. Wir wollen es doch ein Bisschen gemütlich
zuhause haben.
Wegen dem Fahrrad hatte ich Dir ja meine Meinung schon
geschrieben. Wenn Du, nachdem Du meine Stellungnahme gelesen hast noch der
Meinung bist, dass ich eine Anzeige aufgeben soll, so will ich es gern tun. Ich
glaube nicht, dass Webers noch ihr Rad haben, denn soviel ich weiß, hatten sie
es verkauft, noch etwas drauf gelegt und dafür ein großes Rad gekauft. Das ist
schon mehrere Jahre her.
Als ich heute um ¼ 5 Uhr in die Stadt fuhr, sagte ich zu
Helga: „Du kannst mir ja ein kleines Stück entgegen kommen.“ Wie ich nun Heim
fahre, denke ich an der Gebhardskirche “Das Mädel sieht doch wie Helga aus.“
Genau konnte ich es nicht sehen, denn es war inzwischen dunkel geworden. Zur
Vorsicht rufe ich sie an und tatsächlich war es Helga. Soweit hatte ich ja nun
nicht gemeint, dass sie mir entgegen kommen soll. Ein Weilchen bin ich gelaufen
und dann ganz langsam neben ihr her gefahren. Sie war ganz glücklich, dass sie
mich so weitabgeholt hatte. Jörg war inzwischen daheim. Er hatte schon die
Fensterläden zu gemacht. Wir haben bald Abendbrot gegessen. Dann haben die
Kinder noch ein Weilchen gespielt und als sie gerade schlafen gehen wollten,
kam der Alarm. Er ist jetzt auch noch nicht vorbei und es ist gleich ¼ 11 Uhr.
Also 2 Stunden dauert er schon. Die Kinder sind jetzt ziemlich müd. Ich will
nun schließen und wenn der Alarm vorbei ist, schaffe ich schnell noch den Brief
weg, damit er morgen früh mit fort kommt. Heute Nachmittag habe ich wieder 4
Zeitungen an Dich weggeschafft.
Sei nun recht herzlich gegrüßt und geküsst von Deiner Annie.
Liebes Vaterle! Wär
der Alarm nur bald vorbei, wir schlafen bald ein. Vorher waren wir im Keller,
da hat der Flieger mächtig gesurrt. Jetzt ist er endlich fort, aber Entwarnung
ist immer noch nicht. Viele Grüße und Küsse von Deiner Helga.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen