Samstag, 6. Januar 2018

Brief 489 vom 4.1.1943


Mein liebster Ernst    !                                                                              Konstanz, 4.1.43

Jetzt komme ich endlich zum Schreiben. Ich war heute den ganzen Tag auf den Beinen. Jetzt bin ich schon redlich müd. Am Morgen sind wir heute schon zeitig aufgestanden, da Jörg ja wieder in die Schule musste. Er ist äußerst schwer aus dem Bett gekommen. Das zeitige Aufstehen war er gar nicht mehr gewohnt. Mit viel Freude ist er auch nicht in die Schule gegangen, und wie er mir heute Nachmittag sagte, hat es ihm auch gar nicht gefallen. Die Lehrerin sei jetzt so streng. Sogar Tatzen hat sie gleich ausgeteilt, zwar nicht ihm, aber beleidigt war er darüber doch.
Als Jörg fort war, habe ich erst aufgeräumt und bin dann gleich ins Waschhaus gegangen. Den Vormittag über habe ich gewaschen. Auf einer Leine hatte ich ein Bettuch und das Badetuch aufgehängt. Wie ich wieder runterschaue, hängt beides in den Brombeeren (vom Wind) und der Draht ist gerissen. Das hat mich dann auch gefreut, bei der Kälte den Draht wieder flicken. Ich habe von unserem Draht etwas genommen zum Verbinden der zwei Drahtenden. Vom weiteren Aufhängen habe ich dann Abstand genommen, denn es stürmte dann wieder und dabei schneite es manchmal. Jörg kam ¼ 11 heim. Er hat nur den Schulranzen hin gestellt und dann war er schon mit dem Schlitten unten. Neben dem Haus haben sie sich doch eine Rodelbahn gebaut. Da gibt es unten eine scharfe Kurve, die muss natürlich richtig genommen werden. Das ist doch klar.
Ehe ich weiter vom Tagwerk berichte, will ich erst von unserer Helga schreiben. Ihr geht es wieder soweit gut. Ganz ist das Stechen noch nicht weg, aber es hat sehr nachgelassen. Am Nachmittag hat sie in der Küche auf dem Liegestuhl gelegen, und zum Abendbrot ist sie schon aufgestanden. Ich denke, dass bald alles wieder in Ordnung ist. Sie hat schon mit ihren Puppen ein Theaterstück geprobt, das sie uns vorführen will, wenn sie wieder gesund ist. Die kleinen Puppen haben dazu schon ein Perlenkränzchen und Flügel bekommen. Es wird also sicher ganz schön. Das Fensterbrett soll dann die Bühne werden und die Gardinen sind der Bühnenvorhang.
Nach dem Essen bin ich in die Stadt gefahren. Ich habe für mich Gasmasken geholt und für Vater die Lichtrechnung bezahlt. Außerdem habe ich für ihn einen Antrag auf einen Bezugsschein für ein Paar Schuhe weggeschafft. Dann war ich beim Tengelmann, beim Bäcker, Fleischer und in der Molkerei. Ganz beladen kam ich heim. Es war schon eine ziemlich schwierige Fahrerei bei dem Schnee und der Glätte. Aber ich bin doch heil heim gekommen. Ich habe dann noch meine Wäsche fertig gemacht, indem ich verschiedene Sachen, die ich im Waschhaus abtropfen ließ, auf den Speicher geschafft habe. Dann habe ich das Abendessen fertig gemacht, denn Jörg kam schon mit einem riesigen Hunger herein, was man sich ja denken kann, wenn er den ganzen Tag im Freien ist. Nach dem Abendbrot habe ich wieder alles aufgeräumt, die Kinder sind ins Bett gegangen und ich habe mich ans Schreiben gesetzt.
Doch nun will ich das Wichtigste nicht vergessen. Ich erhielt heute Deinen lieben Brief vom 20.12. Leider musste ich lesen, dass Du ins Revier gemusst hast. Das ist ja weniger schön. Ich glaube, mit der ukrainischen Krankheit wirst Du nie ganz fertig. Gott sei Dank habe ich aus Deinen späteren Briefen, die ich aber schon vorher erhielt, gelesen, dass Du wieder in Deine Unterkunft bist, dass es also doch vielleicht bald wieder gut ist. Ich habe mir schon überlegt, ob bei der Weihnachtsfeier der Gruppe vielleicht deshalb für Dich kein Platz reserviert war, weil der Mann, der das leitete, meinte, Du seist noch im Revier. Kann das nicht der Fall sein? Aber das ist jetzt nicht das Wichtigste. Vor allen Dingen hoffe ich, dass Du wieder ganz gesund bist und dass es Dich nicht gleich wieder packt. Denn sowas schwächt doch auch sehr. Bleib mir also gesund, mein liebster Ernst.
Du fragst, ob die Kinder bei dem Theaterstück tatsächlich Geschenke für die Soldaten brachten. Nein, das war nicht der Fall. Es waren leere Kartons und jede sprach dazu ihr Verschen. Die eine sagte, sie würde ihre Harmonika ihrem Vater schicken, die er sich so gewünscht hat, Helga wollte Plätzchen mit Mandeln und Rosinen schicken, da die Männer der Marine ja ihre Aale, die sie an Bord haben, alle wegschießen usw.
Ein Opfer war es für uns nicht, Dir etwas für Weihnachten zu schicken, sondern eine ganz große Freude. Das darfst Du glauben. Wir haben deshalb auch nicht gehungert und zu Weihnachten haben wir auch unser Gebäck und unsere Stolle gehabt.
Wenn in Euren Unterkünften überall die Lampen heraus genommen worden sind, was brennt ihr denn dann? Müsst Ihr immer im Dunkeln sitzen? Übrigens habe ich noch eine Frage. Die Kinder konnten sich nicht darüber einig werden, wie das Revier, in dem Du warst, beschaffen ist, überhaupt, wie ein revier aussieht. Ich wusste auch nicht genau Bescheid. Eins meinte, es sei ein Krankenhaus, das andere meinte, es sei eine große Stube. Da ging dann die Meinung auseinander, ob es so groß ist, wie unsere Wohnung oder wie ein großer Singsaal in der Schule. Also diese Frage musst Du unbedingt beantworten, nicht wahr? Die Kinder warten schon drauf.
Heute schicke ich einige Zeitungen an Dich ab. Ich habe sie diesmal nur mit einem einfachen Streifen überklebt. Hoffentlich kommen sie auch so gut an. Andernfalls würde ich wieder doppelt kleben.
Nun lass mich schließen. Ich grüße Dich herzlich und küsse Dich viel, vielmals, Deine Annie.

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