Mein liebster Ernst! Konstanz, 9.1.43
Es ist zwar heute schon sehr spät, ¼ 12 Uhr, aber ich will
doch noch den Brief an Dich schreiben, damit ich ihn Morgen Vormittag gleich
mitnehmen kann. Ihn noch abends fortzuschaffen hast Du mir in Deinem lieben
Brief vom 28.12., den ich heute erhielt, doch verboten. Da muss ich ja auch
folgen, nicht wahr? Zuerst will ich Dir von heute erzählen. Am Vormittag hatte
ich die übliche Arbeit, nur dass ich noch dazu alle Schubläden und Schrankfächer
im Schlafzimmer frisch eingeräumt habe. Die Stube habe ich auch gründlich
aufgeräumt, denn Helga schläft ab heute wieder im Kinderschlafzimmer. Es geht
ihr wieder gut. Am Nachmittag bin ich zuerst zum Kuster hingegangen und habe
ihm die Briefumschläge gebracht. Jörg sollte dann gleich in die Stadt gehen und
noch die Zuckerkarte anmelden. Das hatte ich gestern vergessen. Sonst war sie
nämlich immer gleich für alle 4 Monate abgeschnitten worden und diesmal nur
jeden Monat extra. Das hatte ich übersehen. Vorher habe ich ihn noch zum Bäcker
zum Brötchenholen geschickt. Die hatten aber keine mehr, so habe ich mich dann
selber noch angezogen und bin mit beiden Kindern in die Stadt gegangen. Helga
war sehr froh, dass sie wieder einmal raus konnte. Wir sind dann in die
Wilhelmstraße, da gab es auch keine Brötchen mehr. Da sind wir erst noch zum
Tengelmann gegangen und dann zum Jakobs, wo wir endlich noch unsere Brötchen
erwischten. Wir haben dann noch die „Post“ für Dich geholt und sind
heimgefahren. Auf der Straße trafen wir noch Vater. Er kam angerannt, wie noch
nie. Als wir ihn anriefen, hörte er erst gar nicht, und dann war seine erste
Frage: „Wann machen die Geschäfte zu, um 6 oder um 7?“ Als ich sagte: „Um 7“,
da war er froh, denn um 6 hatte es nämlich bereits geschlagen.
Jetzt will ich Dir noch was von Jörg erzählen. Daraus sieht
man auch wieder, dass er, wenn er auch manchmal einen Dickkopf hat, doch ein
gutes Herz besitzt. Du weißt doch, wie das immer mit dem aus- und anziehen bei
ihm ist. Er wird einfach nicht fertig. Heute Morgen hat er schon zu dem
Bisschen Anziehen und Schuhe putzen2 Stunden gebraucht und wäre dann bald nicht
richtig fort gekommen. Er hat dann gejammert und vorher habe ich mir bald den
Mund fusselig geredet, er soll nicht immer spielen. Heute Abend war´s dasselbe
Theater. Immer Blödsinn machen und träumen, einmal dies, einmal das. Helga war
schon lange fertig, nur Jörg nicht. Da habe ich nur mit Helga am Bett gebetet
und Jörg war noch draußen. Das hat ihn schwer gekränkt. Ich habe ihn
eingepackt, habe ihm richtig Gute-Nacht gesagt und bin raus gegangen. Er hat
dann geheult. Wie ich raus komme, sehe ich, dass er mir doch extra , damit ich keine kalten Füße bekommen, einen
Seegrasvorleger, den wir sonst bei der jetzigen Kälte unterm Tisch liegen
haben, unter meinen Stuhl gelegt hat, so, dass ich immer die Füße drauf habe. Das
hat mich nun wieder gefreut. Ich weiß nun nicht, ob ich richtig gehandelt habe,
aber ich bin nochmal ins Schlafzimmer gegangen und habe Jörg gefragt, ob er mir
das gemacht hat. Als er bejahte, sagte ich, da müsse ich ja doch direkt
nochmals mit ihm beten, wenn er so lieb war. Aber da sagte er: „Nein, das will
ich nicht, zweimal beten ist nichts.“ Also dann nicht, dachte ich, und bin in
die Küche gegangen. Helga war es nun wieder schrecklich, dass kein Friede da
war und sie weite. Plötzlich rief Jörg. Ich habe erst Mal keine Antwort
gegeben, denn ich lasse mich doch nicht immer hin und her regieren. Aber als er
dann ganz lieb rief: “Liebes Mutterle, komm doch mal rüber“, da bin ich zu ihm
hin gegangen. Da streckte er mir schon seine Arme entgegen, umarmte mich und
sagte: „ Liebes Mutterle, wir wollen wieder ganz lieb miteinander sein, ich
schenke Dir auch den Kalender auf dem Tisch (es ist sein Kalender, wir haben ihn
auf der Kartenstelle bekommen), Du kannst ihn gerne haben.“ Ich weiß doch, wie
gern er den Kalender hat und kann das Opfer ermessen, das er mir bringen
wollte. Ich sagte zu ihm: „ Nein, Jörg, den Kalender behältst Du. Mir ist es
die größte Freude, wenn meine Kinder lieb sind, da ist mein Herz ganz fröhlich
und glücklich. Wir wollen doch froh miteinander leben.“ Da hat er auch wieder
ganz gestrahlt, ich habe ihn zugedeckt und eingemummelt. Da kam ganz leise die
Bitte: „Tu doch bitte noch mit mir beten.“ Also haben wir alle Drei nochmals
gebetet. Dann waren wir froh, dass wieder Friede bei uns war. Jörg hat dann
noch einige Male gerufen, um mir zu sagen, wie froh er ist und wie schön warm
es ihm im Bett ist. Nun schlafen unsere zwei Lauser schon friedlich. Aber sag,
muss man die Kerlchen nicht recht sehr lieb haben?
Helga sagte mir heute, dass sie 4 Worte hat, die ihr am
besten gefallen, das erste heißt „Urlaub“, das 2. „Wiederkommen“, das dritte
„Gesundbleiben“ und das 4. „fest“. Wenn sie eine feste Freude habe, so sei das
erst die richtige Freude und als ihr die Schuhverkäuferin beim letzten
Schuhkauf gesagt habe, das seien feste Schuhe, da haben sie ihr erst richtig
gefallen.
Ich schrieb Dir ja gestern, dass draußen großer Matsch sei.
Über Nacht hat es nun fest gefroren und jetzt ist überall Eis. Dabei so
holpriges, da überall Fußspuren und Radspuren ausgefahren sind. Nun ist auch
wieder ein schlechtes Laufen. Konnte es nicht lieber gleich durchgehend kalt
sein?
Nun zu Deinem Brief. Die Briefe vom 25. Und 26.11. haben
wirklich lange gebraucht. Ich hatte mich schon immer gewundert, warum du gar
nichts von der Sache mit Helgas Brust erwähnst. Da war ja nicht gut möglich,
wenn Du gar nichts davon gewusst hast. Bis jetzt ist wirklich alles gut
geblieben. Beide Seiten entwickeln sich jetzt gleichmäßig und hart sind sie
auch bisher nicht mehr geworden. Aufpassen tue ich aber trotzdem.
Deine Bitte werde ich befolgen und schaffe den Brief an Dich
immer am nächsten Tag fort. Wenigstens solange es noch lange dunkel ist, werde
ich abends deshalb nicht mehr fortgehen.
Wo Vater jetzt schafft, gefällt es ihm gleich gar nicht.
Jetzt bei der Kälte fast im Freien, das ist nichts mehr für ihn. Außerdem meint
er, dass er sich wahrscheinlich einen Bruch geholt hat. Es tut ihm immer weh.
Ich hatte ihm schon vorige Woche zugesprochen, er sollte einmal zum Arzt gehen,
aber er schiebt es immer wieder hinaus. Jetzt hat er sich´s für nächste Woche
vorgenommen.
Vater und Kurt haben nicht viel getrunken, als ich ihnen von
dem Kümmel was gegeben habe. Kurt trinkt nämlich fast nichts mehr, nur wenn es
nicht anders geht. Er hat sich Alkohol in Frankreich zum Überdruss getrunken,
wie er sagt. Er mag davon nichts mehr sehen.
Über das Weihnachtsgeld von Dir kann ich Dir leider noch
nichts weiter schreiben. Dass ich einen Teil auf die Sparkasse geschafft habe,
das hatte ich schon geschrieben. Das andere Geld habe ich noch da. Ich habe
mich zwar nach manchen Sachen erkundigt, aber bekommen habe ich bisher noch
nichts. Doch nun lass mich schließen. Es ist bereits ¼ 1 Uhr geworden. Jetzt
bin ich sehr müd. Morgen Vormittag gehe ich wahrscheinlich mit den Kindern in
die neue Wochenschau. Vorgekocht habe ich bereits heute Abend noch, damit ich
morgen nicht so viel zu tun habe. Nun sei wieder recht herzlich gegrüßt und
geküsst von Deiner Annie.
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