Dienstag, 16. Januar 2018

Brief 493 vom 9.1.1943


Mein liebster Ernst!                                                                                  Konstanz, 9.1.43

Es ist zwar heute schon sehr spät, ¼ 12 Uhr, aber ich will doch noch den Brief an Dich schreiben, damit ich ihn Morgen Vormittag gleich mitnehmen kann. Ihn noch abends fortzuschaffen hast Du mir in Deinem lieben Brief vom 28.12., den ich heute erhielt, doch verboten. Da muss ich ja auch folgen, nicht wahr? Zuerst will ich Dir von heute erzählen. Am Vormittag hatte ich die übliche Arbeit, nur dass ich noch dazu alle Schubläden und Schrankfächer im Schlafzimmer frisch eingeräumt habe. Die Stube habe ich auch gründlich aufgeräumt, denn Helga schläft ab heute wieder im Kinderschlafzimmer. Es geht ihr wieder gut. Am Nachmittag bin ich zuerst zum Kuster hingegangen und habe ihm die Briefumschläge gebracht. Jörg sollte dann gleich in die Stadt gehen und noch die Zuckerkarte anmelden. Das hatte ich gestern vergessen. Sonst war sie nämlich immer gleich für alle 4 Monate abgeschnitten worden und diesmal nur jeden Monat extra. Das hatte ich übersehen. Vorher habe ich ihn noch zum Bäcker zum Brötchenholen geschickt. Die hatten aber keine mehr, so habe ich mich dann selber noch angezogen und bin mit beiden Kindern in die Stadt gegangen. Helga war sehr froh, dass sie wieder einmal raus konnte. Wir sind dann in die Wilhelmstraße, da gab es auch keine Brötchen mehr. Da sind wir erst noch zum Tengelmann gegangen und dann zum Jakobs, wo wir endlich noch unsere Brötchen erwischten. Wir haben dann noch die „Post“ für Dich geholt und sind heimgefahren. Auf der Straße trafen wir noch Vater. Er kam angerannt, wie noch nie. Als wir ihn anriefen, hörte er erst gar nicht, und dann war seine erste Frage: „Wann machen die Geschäfte zu, um 6 oder um 7?“ Als ich sagte: „Um 7“, da war er froh, denn um 6 hatte es nämlich bereits geschlagen.
Jetzt will ich Dir noch was von Jörg erzählen. Daraus sieht man auch wieder, dass er, wenn er auch manchmal einen Dickkopf hat, doch ein gutes Herz besitzt. Du weißt doch, wie das immer mit dem aus- und anziehen bei ihm ist. Er wird einfach nicht fertig. Heute Morgen hat er schon zu dem Bisschen Anziehen und Schuhe putzen2 Stunden gebraucht und wäre dann bald nicht richtig fort gekommen. Er hat dann gejammert und vorher habe ich mir bald den Mund fusselig geredet, er soll nicht immer spielen. Heute Abend war´s dasselbe Theater. Immer Blödsinn machen und träumen, einmal dies, einmal das. Helga war schon lange fertig, nur Jörg nicht. Da habe ich nur mit Helga am Bett gebetet und Jörg war noch draußen. Das hat ihn schwer gekränkt. Ich habe ihn eingepackt, habe ihm richtig Gute-Nacht gesagt und bin raus gegangen. Er hat dann geheult. Wie ich raus komme, sehe ich, dass er  mir doch extra , damit ich keine kalten Füße bekommen, einen Seegrasvorleger, den wir sonst bei der jetzigen Kälte unterm Tisch liegen haben, unter meinen Stuhl gelegt hat, so, dass ich immer die Füße drauf habe. Das hat mich nun wieder gefreut. Ich weiß nun nicht, ob ich richtig gehandelt habe, aber ich bin nochmal ins Schlafzimmer gegangen und habe Jörg gefragt, ob er mir das gemacht hat. Als er bejahte, sagte ich, da müsse ich ja doch direkt nochmals mit ihm beten, wenn er so lieb war. Aber da sagte er: „Nein, das will ich nicht, zweimal beten ist nichts.“ Also dann nicht, dachte ich, und bin in die Küche gegangen. Helga war es nun wieder schrecklich, dass kein Friede da war und sie weite. Plötzlich rief Jörg. Ich habe erst Mal keine Antwort gegeben, denn ich lasse mich doch nicht immer hin und her regieren. Aber als er dann ganz lieb rief: “Liebes Mutterle, komm doch mal rüber“, da bin ich zu ihm hin gegangen. Da streckte er mir schon seine Arme entgegen, umarmte mich und sagte: „ Liebes Mutterle, wir wollen wieder ganz lieb miteinander sein, ich schenke Dir auch den Kalender auf dem Tisch (es ist sein Kalender, wir haben ihn auf der Kartenstelle bekommen), Du kannst ihn gerne haben.“ Ich weiß doch, wie gern er den Kalender hat und kann das Opfer ermessen, das er mir bringen wollte. Ich sagte zu ihm: „ Nein, Jörg, den Kalender behältst Du. Mir ist es die größte Freude, wenn meine Kinder lieb sind, da ist mein Herz ganz fröhlich und glücklich. Wir wollen doch froh miteinander leben.“ Da hat er auch wieder ganz gestrahlt, ich habe ihn zugedeckt und eingemummelt. Da kam ganz leise die Bitte: „Tu doch bitte noch mit mir beten.“ Also haben wir alle Drei nochmals gebetet. Dann waren wir froh, dass wieder Friede bei uns war. Jörg hat dann noch einige Male gerufen, um mir zu sagen, wie froh er ist und wie schön warm es ihm im Bett ist. Nun schlafen unsere zwei Lauser schon friedlich. Aber sag, muss man die Kerlchen nicht recht sehr lieb haben?
Helga sagte mir heute, dass sie 4 Worte hat, die ihr am besten gefallen, das erste heißt „Urlaub“, das 2. „Wiederkommen“, das dritte „Gesundbleiben“ und das 4. „fest“. Wenn sie eine feste Freude habe, so sei das erst die richtige Freude und als ihr die Schuhverkäuferin beim letzten Schuhkauf gesagt habe, das seien feste Schuhe, da haben sie ihr erst richtig gefallen.
Ich schrieb Dir ja gestern, dass draußen großer Matsch sei. Über Nacht hat es nun fest gefroren und jetzt ist überall Eis. Dabei so holpriges, da überall Fußspuren und Radspuren ausgefahren sind. Nun ist auch wieder ein schlechtes Laufen. Konnte es nicht lieber gleich durchgehend kalt sein?
Nun zu Deinem Brief. Die Briefe vom 25. Und 26.11. haben wirklich lange gebraucht. Ich hatte mich schon immer gewundert, warum du gar nichts von der Sache mit Helgas Brust erwähnst. Da war ja nicht gut möglich, wenn Du gar nichts davon gewusst hast. Bis jetzt ist wirklich alles gut geblieben. Beide Seiten entwickeln sich jetzt gleichmäßig und hart sind sie auch bisher nicht mehr geworden. Aufpassen tue ich aber trotzdem.
Deine Bitte werde ich befolgen und schaffe den Brief an Dich immer am nächsten Tag fort. Wenigstens solange es noch lange dunkel ist, werde ich abends deshalb nicht mehr fortgehen.
Wo Vater jetzt schafft, gefällt es ihm gleich gar nicht. Jetzt bei der Kälte fast im Freien, das ist nichts mehr für ihn. Außerdem meint er, dass er sich wahrscheinlich einen Bruch geholt hat. Es tut ihm immer weh. Ich hatte ihm schon vorige Woche zugesprochen, er sollte einmal zum Arzt gehen, aber er schiebt es immer wieder hinaus. Jetzt hat er sich´s für nächste Woche vorgenommen.
Vater und Kurt haben nicht viel getrunken, als ich ihnen von dem Kümmel was gegeben habe. Kurt trinkt nämlich fast nichts mehr, nur wenn es nicht anders geht. Er hat sich Alkohol in Frankreich zum Überdruss getrunken, wie er sagt. Er mag davon nichts mehr sehen.
Über das Weihnachtsgeld von Dir kann ich Dir leider noch nichts weiter schreiben. Dass ich einen Teil auf die Sparkasse geschafft habe, das hatte ich schon geschrieben. Das andere Geld habe ich noch da. Ich habe mich zwar nach manchen Sachen erkundigt, aber bekommen habe ich bisher noch nichts. Doch nun lass mich schließen. Es ist bereits ¼ 1 Uhr geworden. Jetzt bin ich sehr müd. Morgen Vormittag gehe ich wahrscheinlich mit den Kindern in die neue Wochenschau. Vorgekocht habe ich bereits heute Abend noch, damit ich morgen nicht so viel zu tun habe. Nun sei wieder recht herzlich gegrüßt und geküsst von Deiner Annie.

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