Mein liebster, bester Mann! Konstanz, 18.1.43
Nach meinem gestrigen Ansatz, wieder mit der Hand zu
schreiben, kehre ich doch wieder zur Maschine zurück. Es geht einfach viel
schneller und mir fällt mehr ein. Der heutige Tag ist wieder mit Arbeit
vergangen. Am Morgen habe ich erst gestrickt, dann gewaschen, später Essen
gekocht. Nach dem Essen habe ich verschiedene Sachen ausgebessert und mit der
Maschine dem Bettbezug von Vater ein neues Stück angesetzt. So ist auch der Nachmittag
vergangen. Damit ich nicht erst in die Stadt brauchte, habe ich Jörg zum Butter
holen geschickt. Er durfte sich drei Waffeln mitbringen, das hat gelockt. Er
ist mit seinem Freund Richard gegangen. Als er heim kam, sagte er, dass sie von
der Stadt aus mit dem Zug heimgefahren sind. Auf was die Kerle doch alles
kommen. Helga war am Nachmittag in der Schule.
Heute Abend will ich noch sehen, dass ich Jörgs Halbschuhe
nähen kann. Vor einigen Tagen kam er von der Schule heim. Ich achtete erst gar
nicht auf die Schuhe. Plötzlich kam er ganz langsam und vorsichtig zu mir her
und sagte: „Mutterle, kann ich nicht ein paar andere Schuhe anziehen, die sind
ganz nass und kaputt sind sie auch, weißt Du, ich bin doch wieder aufs Eis
gegangen. Die anderen Buben waren dort und haben gerufen, da bin ich auch hin.“
Ich hatte ihm doch kaum vorher gesagt, er sollte nicht mehr aufs Eis gehen, ich
komme mit dem Schuhe reparieren nicht mehr nach. Als ich ihn so gedrückt neben
mir stehen sah, konnte ich aber doch nicht schimpfen, sondern sagte nur: „Aber
Jörg, Du hast doch versprochen, dass Du das nicht mehr machen willst.“ Als er
sah, dass er keine Wichse bekam, hing er im nächsten Moment an meinem Hals und
nun war ich auf einmal das liebste Mutterle und er versprach mir nochmals, dass
er bestimmt nicht mehr aufs Eis gehen würde. (Was meinst Du, wie lange das
Versprechen wieder gilt?) Ich habe mir dann die Schuhe angesehen und war
entsetzt. Von Schuhen war eigentlich überhaupt nichts mehr zu sehen, alles war
Dreck. Ich habe sie dann mit der Bürste unterm Wasser abwaschen müssen, damit
überhaupt wieder Leder zum Vorschein kam. Hinten waren sie niedergetreten, denn
mit einem Fuß ist er im Schlamm stecken geblieben, sodass der ganze Schuh raus
rutschte. Die Seitennaht ist bei dem einen Schuh bis zur Sohle aufgerissen.
Zwei Tage haben die Schuhe nun erst trocknen müssen, bis ich sie jetzt
reparieren kann. Bei den Schuhen, wo ich Holzsohlen drauf gemacht habe, hat er
die Absätze runtergetreten, dass er bald auf der Pappe, oder was das für Zeug
ist, läuft. Also mit Schuhen ist bei Jörg immer was. Bei Helga habe ich damit
nun gar keine Plage.
Noch eine wichtige Arbeit habe ich heute gehabt. Ich musste
für Helga einen Kasper machen. Sie hat mit mehreren Mädchen aus ihrer und
Ingrids Klasse ausgemacht, dass sie bei einem Mädel Kaspertheater spielen
wollen. Dazu brauchte sie einen Kasper. Aus einem Buch hat sie gelesen, wie sie
gemacht werden. Also fing sie erst an: „Ich brauche eine alte Postkarte, hast
Du keine?“ Als sie die hatte, drehte sie eine Röhre, die in den Kopf kommt,
damit man den Finger reinstecken kann. Dann holte sie Zeitungspapier und formte
den Kopf, darum kamen Stoffstreifen, darüber kommt dann Trikot. Ich hatte
eigentlich keine Zeit, aber da saß sie so neben mir, und wenn es nicht klappte,
schaute sie mich immer hilfesuchend an. Zuletzt habe ich die Sache in die Hand
genommen. Bis Helga in die Schule ging, hatten wir den Kopf fertig. Kaum kam
sie wieder, fing es von neuem an: „ Hast Du was für die Mütze? Hast Du was fürs
Kleid?“ Wir haben dann was Buntes aus dem Lumpensack geholt und ich habe die
Sachen gleich noch mit der Maschine genäht. Da war ihre Freude groß. Eine lange
Nase habe ich auch noch gemacht und angenäht. An die Mütze haben wir noch einen
großen, schweren Knopf genäht, dazu haben wir die Augen, die Nasenlöcher, den
Mund und ein Ohr angestickt. Auf dem zweiten Ohr sitzt die Mütze. Ein paar
schwarze Haare schauen unter der Mütze auch hervor. Der ganze Kerl sieht jetzt
ganz lustig aus. Noch etwas muss ich Dir von Helga erzählen. Als sie heute heim
kam, sagte sie: „Weißt Du Mutterle, ich bin immer ganz stolz, wenn ich jemand
davon erzählen kann, dass einmal mein Mund aufgerissen war. Da gucken sie mich
so staunend an, das gefällt mir.“ Ist sie nicht ein kleines Äffchen?
Nun will ich Dir aber auch schreiben, dass ich Deinen lieben
Brief vom 10.1. heute bekommen habe. Der war doch zeitig hier, nicht wahr? Auch
der Brief an Helga vom gleichen Tag ist angekommen. Was meinst Du, wie sich
Helga darüber gefreut hat, dass Du so auf die Puppengeschichte eingegangen
bist. Hat sie lachen müssen. Das hast Du wieder ganz lieb gemacht.
Du hast also wieder ein Gesuch an die Stadt gerichtet. Ich
bin gespannt, ob es Erfolg haben wird. Gilt der Erlaß nicht nur für die, die
erst zum außerplanmäßigen Beamten ernannt werden sollen oder auch für weitere
Beförderungen? Hoffentlich besorgt dir der Herre alles richtig. Schön wär´s ja
schon, wenn das Gesuch Berücksichtigung fände. Aber wir wollen uns nicht zu
viel Hoffnung machen. Aber richtig ist es auf jeden Fall, dass Du nicht locker
lässt.
Das weiß ich doch ganz genau, dass Du keine Schuld daran
hast, wenn der Weihnachtsbrief nicht gerade an den Feiertagen angekommen ist.
Da brauchst Du Dir wirklich keine Gedanken zu machen. Im Allgemeinen kommen
Deine Briefe doch ziemlich schnell an. In letzter Zeit kommen sie nur ein
Bisschen durcheinander an. Ich habe jetzt Deine Briefe vom 1., 4., 5. und 10.1.
erhalten. In den nächsten Tagen werden nun die anderen ankommen. In einem davon
wirst Du sicher schreiben, dass Du unseren Weihnachtsbrief erhalten hast, auf
den Du doch lange gewartet hast. Hoffentlich hat er Dich auch gefreut.
Ich glaube, mit dem Schuh nähen wird es heute doch nichts
mehr. Ich bin schon zu müde und bekomme auch ein wenig Kopfweh, da gehe ich
lieber bald schlafen. Es ist ¾ 10 Uhr. Morgen früh besorge ich für Vater Wolle,
morgen Nachmittag gehe ich wieder nähen.
Nun, mein liebster Ernst, mein lieber, lieber Schatz, sei
wieder recht herzlich gegrüßt und ganz fest geküsst von Deiner Annie.
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