Donnerstag, 25. Januar 2018

Brief 501 vom 18.01.1943


Mein liebster, bester Mann!                                                                                 Konstanz, 18.1.43

Nach meinem gestrigen Ansatz, wieder mit der Hand zu schreiben, kehre ich doch wieder zur Maschine zurück. Es geht einfach viel schneller und mir fällt mehr ein. Der heutige Tag ist wieder mit Arbeit vergangen. Am Morgen habe ich erst gestrickt, dann gewaschen, später Essen gekocht. Nach dem Essen habe ich verschiedene Sachen ausgebessert und mit der Maschine dem Bettbezug von Vater ein neues Stück angesetzt. So ist auch der Nachmittag vergangen. Damit ich nicht erst in die Stadt brauchte, habe ich Jörg zum Butter holen geschickt. Er durfte sich drei Waffeln mitbringen, das hat gelockt. Er ist mit seinem Freund Richard gegangen. Als er heim kam, sagte er, dass sie von der Stadt aus mit dem Zug heimgefahren sind. Auf was die Kerle doch alles kommen. Helga war am Nachmittag in der Schule.
Heute Abend will ich noch sehen, dass ich Jörgs Halbschuhe nähen kann. Vor einigen Tagen kam er von der Schule heim. Ich achtete erst gar nicht auf die Schuhe. Plötzlich kam er ganz langsam und vorsichtig zu mir her und sagte: „Mutterle, kann ich nicht ein paar andere Schuhe anziehen, die sind ganz nass und kaputt sind sie auch, weißt Du, ich bin doch wieder aufs Eis gegangen. Die anderen Buben waren dort und haben gerufen, da bin ich auch hin.“ Ich hatte ihm doch kaum vorher gesagt, er sollte nicht mehr aufs Eis gehen, ich komme mit dem Schuhe reparieren nicht mehr nach. Als ich ihn so gedrückt neben mir stehen sah, konnte ich aber doch nicht schimpfen, sondern sagte nur: „Aber Jörg, Du hast doch versprochen, dass Du das nicht mehr machen willst.“ Als er sah, dass er keine Wichse bekam, hing er im nächsten Moment an meinem Hals und nun war ich auf einmal das liebste Mutterle und er versprach mir nochmals, dass er bestimmt nicht mehr aufs Eis gehen würde. (Was meinst Du, wie lange das Versprechen wieder gilt?) Ich habe mir dann die Schuhe angesehen und war entsetzt. Von Schuhen war eigentlich überhaupt nichts mehr zu sehen, alles war Dreck. Ich habe sie dann mit der Bürste unterm Wasser abwaschen müssen, damit überhaupt wieder Leder zum Vorschein kam. Hinten waren sie niedergetreten, denn mit einem Fuß ist er im Schlamm stecken geblieben, sodass der ganze Schuh raus rutschte. Die Seitennaht ist bei dem einen Schuh bis zur Sohle aufgerissen. Zwei Tage haben die Schuhe nun erst trocknen müssen, bis ich sie jetzt reparieren kann. Bei den Schuhen, wo ich Holzsohlen drauf gemacht habe, hat er die Absätze runtergetreten, dass er bald auf der Pappe, oder was das für Zeug ist, läuft. Also mit Schuhen ist bei Jörg immer was. Bei Helga habe ich damit nun gar keine Plage.
Noch eine wichtige Arbeit habe ich heute gehabt. Ich musste für Helga einen Kasper machen. Sie hat mit mehreren Mädchen aus ihrer und Ingrids Klasse ausgemacht, dass sie bei einem Mädel Kaspertheater spielen wollen. Dazu brauchte sie einen Kasper. Aus einem Buch hat sie gelesen, wie sie gemacht werden. Also fing sie erst an: „Ich brauche eine alte Postkarte, hast Du keine?“ Als sie die hatte, drehte sie eine Röhre, die in den Kopf kommt, damit man den Finger reinstecken kann. Dann holte sie Zeitungspapier und formte den Kopf, darum kamen Stoffstreifen, darüber kommt dann Trikot. Ich hatte eigentlich keine Zeit, aber da saß sie so neben mir, und wenn es nicht klappte, schaute sie mich immer hilfesuchend an. Zuletzt habe ich die Sache in die Hand genommen. Bis Helga in die Schule ging, hatten wir den Kopf fertig. Kaum kam sie wieder, fing es von neuem an: „ Hast Du was für die Mütze? Hast Du was fürs Kleid?“ Wir haben dann was Buntes aus dem Lumpensack geholt und ich habe die Sachen gleich noch mit der Maschine genäht. Da war ihre Freude groß. Eine lange Nase habe ich auch noch gemacht und angenäht. An die Mütze haben wir noch einen großen, schweren Knopf genäht, dazu haben wir die Augen, die Nasenlöcher, den Mund und ein Ohr angestickt. Auf dem zweiten Ohr sitzt die Mütze. Ein paar schwarze Haare schauen unter der Mütze auch hervor. Der ganze Kerl sieht jetzt ganz lustig aus. Noch etwas muss ich Dir von Helga erzählen. Als sie heute heim kam, sagte sie: „Weißt Du Mutterle, ich bin immer ganz stolz, wenn ich jemand davon erzählen kann, dass einmal mein Mund aufgerissen war. Da gucken sie mich so staunend an, das gefällt mir.“ Ist sie nicht ein kleines Äffchen?
Nun will ich Dir aber auch schreiben, dass ich Deinen lieben Brief vom 10.1. heute bekommen habe. Der war doch zeitig hier, nicht wahr? Auch der Brief an Helga vom gleichen Tag ist angekommen. Was meinst Du, wie sich Helga darüber gefreut hat, dass Du so auf die Puppengeschichte eingegangen bist. Hat sie lachen müssen. Das hast Du wieder ganz lieb gemacht.
Du hast also wieder ein Gesuch an die Stadt gerichtet. Ich bin gespannt, ob es Erfolg haben wird. Gilt der Erlaß nicht nur für die, die erst zum außerplanmäßigen Beamten ernannt werden sollen oder auch für weitere Beförderungen? Hoffentlich besorgt dir der Herre alles richtig. Schön wär´s ja schon, wenn das Gesuch Berücksichtigung fände. Aber wir wollen uns nicht zu viel Hoffnung machen. Aber richtig ist es auf jeden Fall, dass Du nicht locker lässt.
Das weiß ich doch ganz genau, dass Du keine Schuld daran hast, wenn der Weihnachtsbrief nicht gerade an den Feiertagen angekommen ist. Da brauchst Du Dir wirklich keine Gedanken zu machen. Im Allgemeinen kommen Deine Briefe doch ziemlich schnell an. In letzter Zeit kommen sie nur ein Bisschen durcheinander an. Ich habe jetzt Deine Briefe vom 1., 4., 5. und 10.1. erhalten. In den nächsten Tagen werden nun die anderen ankommen. In einem davon wirst Du sicher schreiben, dass Du unseren Weihnachtsbrief erhalten hast, auf den Du doch lange gewartet hast. Hoffentlich hat er Dich auch gefreut.
Ich glaube, mit dem Schuh nähen wird es heute doch nichts mehr. Ich bin schon zu müde und bekomme auch ein wenig Kopfweh, da gehe ich lieber bald schlafen. Es ist ¾ 10 Uhr. Morgen früh besorge ich für Vater Wolle, morgen Nachmittag gehe ich wieder nähen.
Nun, mein liebster Ernst, mein lieber, lieber Schatz, sei wieder recht herzlich gegrüßt und ganz fest geküsst von Deiner Annie.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen