Montag, 29. Januar 2018

Brief 507 vom 25.1.1943


Mein liebster  Ernst!                                                     Konstanz, 25.1.43

Es ist wieder 9 Uhr geworden, ehe ich zum Schreiben gekommen bin. Ich war heute wieder beim Nähen, von ½ 3 bis 6 Uhr. Heute hab ich sogar 3 Zelte fertig gebracht. Sonst gehe ich ja immer dienstags, aber mir ließ es gar keine Ruhe. Wenn ich jetzt so lese, wie die Soldaten in Stalingrad kämpfen und fast den sicheren Tod vor Augen haben, da kann ich nicht daheim bleiben. Da will ich auch etwas tun. Wenn es auch nicht viel ist. Es tut mir direkt weh, dass die Soldaten dort so eingeschlossen sind und sich bis zum Letzten wehren. Beim Angriff ist nach meinem Fühlen alles anders, aber so eingeschlossen sein, einen unmenschlichen Feind um sich, es muss grausam sein. Wie müssen jetzt die Familien leiden, die genau wissen, dass ihre Männer und Söhne in Stalingrad sind. Dieser Kampf sollte doch alle aufrütteln. Wie wird das Ende der Stalingradkämpfer sein? Ich höre heute gerade im Nähen, dass Herr Weber gesagt hat, sie könnten keine Nacht mehr schlafen, weil doch ihr Sohn auch in Stalingrad ist. Niemand weiß, wie es ihm geht.
Post habe ich heute keine von Dir erhalten, aber vorhin habe ich einmal wegen der Sache „Brose“ nachgesehen. Eine Abschrift des Briefes, in dem gewissermaßen gleich die Urkunde mit enthalten ist, die wir hier haben, lege ich bei. Wie Du daraus siehst, handelt es sich bei dem Johann Christian Brose um den 2.Sohn des Johannes Zacharias Brose aus Niemberg. Vielleicht hat der 1.Sohn in Niemberg geheiratet und das väterliche Geschäft übernommen, während der 2.Sohn in Köthen in die Schuhmacherei eingeheiratet hat. Vielleicht kannst du in dem Sinn nochmals nachforschen.
Wegen der anderen Daten in der Ahnensache, wie Hochzeitstage, Geburtstage usw. will ich noch an Papa schreiben. Gestern habe ich das zu erledigen vergessen. Aber ich vergesse es nicht.
Ich schrieb Dir doch vorige Woche, dass im Nähen einige so genannte „Bessere Damen“ da waren. Zwei davon haben fleißig geschafft, die anderen zwei hatten es weniger wichtig. Heute habe ich erfahren, dass das die ganze Familie Stromeyer war. Die Frauen vom Ludwig, Manfred, dem Doktor und die Frau eines Sohnes. Heute hat auch Frau Bernhagen neben mir gesessen. Deren Mann ist jetzt in Mühlhausen. Das ist aber eine sehr nette Frau. Sie beklagte sich auch darüber, dass so wenig Frauen kommen, die sonst gar nichts zu tun haben. Sie meinte, vielleicht würde es noch ein „muss“, dass jede Frau etwas hilft. Schaden könnte es nichts, denn da ist wirklich noch viel Arbeitsreserve vorhanden.
Helga hatte jetzt wieder einmal eine ganz neue Idee. Sie hat mit noch einigen Mädchen einen „Club“ gebildet. Da hat sie ein Buch angelegt, wenn Dienst ist, wieviel Geld eingegangen ist usw. Wenn sie Geld zusammen haben, wollen sie Soldaten im Lazarett besuchen. Ich habe ihr nun gesagt, jeder soll etwas Geld bei sich zuhause zusammensparen, dann könnten sie gehen. Außerdem hat der Club noch den Zweck, dass sie sich irgendwo treffen zum Lesen. Jeder bringt ein Buch mit. Das tauschen sie nachher solange sie zusammen sind aus. Diese Club-Sache ist so eine richtige Kinderidee. Aber ich habe sie machen lassen. Es bereitet ihr doch so sehr viel Freude.
Wie Helga heute sagte, hat ihnen die Lehrerin bekannt gegeben, dass die Zensuren ganz geändert werden. Es würden verschiedene Fächer anders benannt, dann würde Verschiedenes zusammengefasst. Das Wichtigste ist aber, dass sie gesagt hat, in „Betragen“ gäbe es jetzt keine 1 mehr, nur wenn jemand sich ganz hervorragend betragen hätte, sodass niemals ein Anlass für einen Tadel vorhanden gewesen wäre. Sonst gäbe es nur 2 oder 3. Wenn das tatsächlich der Fall ist, so finde ich das blödsinnig. Das ist auch wieder so eine Versuchsidee. In der kurzen Zeit, seit Helga in der Schule ist, wurden doch schon einmal die Zensurhefte geändert, denn Jörg hat doch ein ganz anderes Zensurheft. So lange ich mich erinnern kann, und auch schon früher, hat es im „Betrage“ doch schon immer eine 1 gegeben, nur wenn jemand richtig frech war, bekam er eine 2. Nun soll das plötzlich auch anders werden. Was heißt schon hervorragend betragen? Jedes Kind redet doch einmal in der Stunde oder stellt sonst eine harmlose Dummheit an. Da soll es nun eine 2 geben. Ich bin ja gespannt, was die Kinder für eine Zensur heimbringen. Mit der Schule wird jetzt auch viel experimentiert, findest Du nicht auch?
Gestern Abend war Vater noch hier. Ich habe den Abend über noch an seinen Strümpfen geschafft. Um 11 war ich mit stricken fertig. Dann musste ich noch verschiedene Maschen aufheben und verschiedene Stellen stopfen, denn ich habe doch nur die Füße angestrickt. Gegen 12 war ich mit den Strümpfen fertig und konnte sie Vater gleich mitgeben. Er hat mir dann, obgleich ich es nicht wollte, 2 Mk. für die Arbeit gegeben. Ich hätte gleich mit den anderen Socken in den nächsten Tagen angefangen, aber Vater muss erst wieder Wolle raussuchen. Das kann er aber erst am Samstag. Da muss ich so lange warten.
Wenn nichts dazwischen kommt, gehe ich morgen mit den Kindern in den Film „Diesel“. Der wird sicher interessant sein. Dabei bezahle ich gleich die Lichtrechnung für Vater auf dem Rentamt und schaffe eine Karte nach dem Arbeitsamt. Sie haben ihm nämlich eine Karte geschickt, er möge ihnen mitteilen, wo er augenblicklich beschäftigt ist. Derweil haben sie ihn doch selber zu Stromeyer vermittelt.
Nun lass mich schließen. Ich will noch den einen Brief abschreiben. Bleib mir gesund und sei ganz herzlich gegrüßt und feste geküsst von deiner Annie.

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