Dienstag, 16. Januar 2018

Brief 494 vom 10./11.1.1943


Mein liebster Ernst!                                                                                  Konstanz, 10.1.43

Wie ich Dir gestern schon schrieb, sind wir heute in die Wochenschau gegangen. Ich hätte ja nicht gehen brauchen, denn ich möchte sowieso in der kommenden Woche ins Kino gehen, aber die Kinder haben mich so gebeten. Sie gehen so ungern allein. Ich will in den Film, den Farbfilm „Die goldene Stadt“ gehen. Es handelt sich dabei um  das Schicksal eines Mädchens, das von daheim fort geht in der Sehnsucht nach der goldenen Stadt Prag. Als sie sehr spät, heruntergekommen, wieder heim auf den Hof ihres Vaters findet, verweigert ihr der Vater die Aufnahme und sie sucht den Tod im Moor. Sehr einprägsam soll gerade durch den Farbfilm auch der Niedergang in der Kleidung dargestellt sein. Man sieht es auch in den Bildern, die aushängen. Erst hat sie die schöne Tracht an, am Sonntag oder zum Fest eine weiße, wie ich sie ähnlich mal auf einem Bild gesehen habe, wo Siebenbürger Frauen abgebildet waren. In der Stadt hat sie dann so ein alltägliches Stadtkleid an. Im Farbfilm kann man ja gerade solche Sachen sehr einprägsam gestalten. Die schönen Trachten kämen in einem Schwarzweißfilm überhaupt nicht zur Geltung. 
Am Nachmittag waren wir daheim. Ich habe gestopft, und später, als ich keine Lust mehr hatte, gelesen. Lange hatte ich zwar keine Zeit mehr dazu, denn ich musste Abendbrot machen. Es gab Bratkartoffeln und hinterher Quarkkeulchen. Am Mittag hatten wir Kartoffeln, Erbsen und Fleisch und hinterher Pudding.
Helga hat den ganzen Nachmittag über auch gelesen. Jörg war draußen beim Schlittenfahren. Es geht ganz gut, denn überall ist ja Eis. Man muss so vorsichtig laufen. Als wir heute aus dem Kino kamen, haben wir unten beim Bettelgäßle den Weg abgekürzt und sind den schrägen Weg gegangen, der durch den kleinen Graben führt. Da bin ich doch so ausgerutscht. Aber Helga, die bei mir eingehängt war, konnte mich noch halten, sodass ich mich nicht auf die Erde zu setzen brauchte. Sie war auch ganz stolz, dass sie mich hatte halten können.
Am Abend haben sich heute die Kinder nicht so spät ausgezogen. Jörg war sogar zuerst fertig. Was sagst Du dazu?
Vorhin ist Vater gekommen. Denke Dir, er ist von seinem jetzigen Arbeitsplatz bis auf Widerruf, also bis ihn seine erste Firma wieder verlangt, vom Arbeitsamt zu L. Stomeyer verpflichtet worden. Aber wieder nur als Hilfsarbeiter, was ihm nicht gerade recht ist. Morgen muss er anfangen.

                                                                                                                        11.1.43
Mein lieber Ernst. Gestern konnte ich nicht weiter schreiben. Vater hat vom Geschäft erzählt und als er ging, war es schon bald 11 Uhr, da war ich dann müde. Aber dafür beende ich jetzt den Brief und nehme ihn am Nachmittag mit. Den Vormittag habe ich jetzt mit Schuhe reparieren und Regenmäntel kleben verbracht. Bei den Regenmänteln der Kinder hatten sich vorn und in der Kapuze alle umgeklebten Stellen gelöst. Das sah erstens mal schlecht aus und zweitens ging bei der Kapuze immer das durchgezogene Band raus und zusammenziehen konnte man es auch nicht mehr. Bei den Schuhen von Jörg war die Zunge rausgegangen, vorne und hinten an der Naht war ein Stück aufgeplatzt. Seine hohen, schwarzen Schuhe sind gestern auch aus dem Leim gegangen, aber dazu bin ich heute nicht mehr gekommen. Jörg reißt furchtbar Schuhe runter. Jetzt beim Schlittenfahren, da kurvt und bremst er manchmal noch mit den Schuhen. Da kannst Du Dir denken, wie die werden. Vor einigen Tagen sah ich ihn auch, wie er mit den Absätzen Eis aufhackte, und wenn man ihn dann fragt, ja wo hast Du denn wieder das Eisen, so weiß er von nichts. Er ist nur gelaufen, sonst gar nichts. Wo die Eisen abgerissen sind, ist ihm unerklärlich. O ist das ein Lauser.
Gerade brachte mir der Briefträger Briefe von Dir. Weißt Du, wie viele? 5 Stück und einen für die Kinder. Die Briefe sind vom 21., 29., 30. Und 31.12, sowie ein Einschreibebrief, aufgegeben am 8.1. in Posen mit Briefen usw. Als ich den aufmachte, sah ich zuerst gleich das russische Flugblatt. Also, wirklich, die Kerle spinnen. Zum Lesen der Briefe bin ich noch nicht gekommen, das tue ich gleich, wenn ich hier mit Schreiben fertig bin. Ich beantworte sie dann mit den nächsten Briefen. Aber das eine will ich gleich noch schreiben, dass ich mich mächtig freue, dass Du 2 Zulassungsmarken mitgeschickt hast. Nun kann ich doch bald Deine Sachen wegschicken.
Gerade liest Jörg Deinen Brief. Er ist gerade heim gekommen. Er hat schon ein paar Mal herzlich gelacht, besonders bei der Sache mit den Ferien und dass sie sich den Bauch tüchtig vollgegessen haben sollen. Deine Briefe lösen immer viel Freude aus. Ich freue mich auch schon nachher aufs Briefe lesen.
Außer den Briefen ist auch noch Dein Päckchen Nr. 51 mit Butter angekommen. Ich danke Dir sehr dafür. Durch die Butter, die Du mir früher manchmal geschickt, und auch im letzten Urlaub mitgebracht hattest, konnten wir manches Mal etwas backen oder braten, was sonst nicht möglich gewesen wäre. Das hat mir schon so viel geholfen.
Gerade hat Jörg wieder in sich hinein gekichert. Das war die Geschichte mit seiner Geschäftstüchtigkeit, dass Du bald nichts mehr schaffen brauchtest, weil er verdient. Nun ist er mit lesen fertig und sagt immer wieder: „ Der Brief gefällt mir, der ist fein.“ Also Du siehst, Du hast es ganz recht gemacht.
Heute Nachmittag gehe ich wahrscheinlich ins Kino. Helga hat von ½ 3 bis ½ 5 Schule. Jörg fährt erst ein Bisschen Schlitten, holt dann Helga ab und kommt mit ihr in die Stadt. Sie bringen den Schlitten mit, da können wir unsere Sachen, die wir einkaufen, gleich drauflegen. Ich hole heute 5 2-Pfund-Brote, unsere Wochenration, das ist eine ziemliche Last, wenn man sie tragen soll.
Nun lass mich schließen. Ich muss noch ans Kochen denken. Sei recht herzlich gegrüßt und geküsst und noch vielmals bedankt für Deine vielen lieben Briefe von Deiner Annie.

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