Mein liebster Ernst!
Konstanz, 31.1.43
Gestern habe ich Dir wieder nicht geschrieben. Weißt Du, der
Tod von Kurt lastet immer noch auf uns. Ich wusste gar nicht, was ich schreiben
sollte. Heute kam nach mehreren Tagen wieder ein Brief von Dir, der mich wieder
ein wenig aufgemuntert hat. Ehe ich ihn beantworte, möchte ich Dir erst noch
von gestern und heute berichten.
Gestern war ein richtiger Arbeitstag, wie immer Samstag. Am
Morgen bin ich in die Stadt gefahren, habe Geld geholt, Geld auf die Sparkasse
getan, habe eingekauft usw. Wir haben jetzt 701.- auf dem Sparbuch.
Am Nachmittag habe ich die Ansprache von Göring und Dr.
Göbbels angehört. Ich hatte vorgestern und auch gestern gedacht, Vater würde am
Abend raufkommen. Da es aber nicht geschah, bin ich gleich heute Vormittag
runter gefahren. Ehe ich mich auf den Weg machte, kam Paula rauf. Sie fragte
mich wegen einer Todesanzeige. Der Herr Ketterer aus der Zahnfabrik ist
deswegen bei ihr gewesen. In der Zahnfabrik wissen sie durch den Bräutigam
eines Fräuleins davon, dass Kurt gefallen ist. Dieser hatte geschrieben, sie
könnten es gar nicht fassen, dass Kurt nicht mehr bei ihnen sei. Er sei ein
guter Kamerad gewesen. Der Ketterer hat zur Paula gesagt, sie hätten ihn in der
Zahnfabrik ganz verkannt. Paula hat zu ihm gesagt, „Nicht wahr, Kurt war der
erste aus der Zahnfabrik, der verwundet wurde und der jetzt gefallen ist. Was
sagt denn die Killy dazu, die ihn immer so geärgert hat?“ Als er sagte, dass
sie jetzt immer krank sei, hat Paula gesagt „Sagen Sie ihr nur, das verdient
sie auch nicht anders. Sie hat dem armen Kurt schwer mitgespielt.“
Paula hat an Nanni ein Telegramm geschickt, sie sollte, wenn
es ihr möglich wäre, her kommen, Paula wäre in schwerer Sorge. Sie sagte, sie
hätte Nanni nicht schreiben können, dass Kurt gefallen sei. Sie zeigte mir eine
Karte von Nanni, die sie vor ein paar Tagen geschrieben hat. Darauf stand, sie
hätte das Paket (das ihr Paula geschickt hat) erhalten. Sie freue sich darüber,
aber sie sei so sehr in Sorge um Kurt, hoffentlich sei er noch am Leben. Es
ist, als ob sie eine Ahnung gehabt hätte. Paula sagte, Vater möchte doch bitte
einmal zu ihr hinkommen, sie hätte Verschiedenes mit ihm zu besprechen. Ich
habe es ihm dann ausgerichtet. Als ich runter kam, bin ich fast erschrocken.
Vater sah ganz weiß aus, und immer sind ihm die Tränen aus den Augen getropft. Es
hat ihn sehr schwer getroffen. Er hat sich dann eine ganze Weile mit mir
unterhalten, das hat ihn ein Bisschen abgelenkt. Ich habe ihm auch gesagt, er
solle schon am Nachmittag zu uns raufkommen, damit er nicht so allein ist. Er
hat es auch versprochen. Vorher geht er nur noch zur Paula hin. Wenn er auch nichts
mit ihr zu tun haben will, so wollen wir doch in dieser Angelegenheit nicht
herumstreiten. Paula hat ja auch an Kurt gehangen.
Helga ist wegen Kurt auch traurig. Jörg versteht es noch
nicht so. Sie hat sich erst beruhigt, als ich ihr sagte, Onkel Kurt ist nun im
Himmel, wo er gar keine Schmerzen, keine Sorgen mehr hat und wo er ganz froh
sein kann. Und ganz später sehen wir ihn ja wieder. Sie hat sich immer daran
erinnert, wie Kurt immer zu Jörg gesagt hat „Na, Du Strick.“
Von Papa erhielt ich heute eine Karte, dass die
Geburtstagsgeschenke rechtzeitig angekommen sind. Von Siegfried erhielt ich einen
kurzen Brief. Er schickte mir vor allen Dingen den Durchschlag von Papas Brief
an Dich zu, den er erst an Siegfried zum Lesen gesandt hatte. Er richtet darin
auch Grüße an Kurt aus. Dazu ist es ja nun leider zu spät.
Nun möchte ich Deinen lieben Brief vom 25.1. beantworten.
Bei Dir waren meine Briefe vom 14. und 15. angekommen, während die weiter
zurück liegenden noch nicht da waren. So geht es mir jetzt auch. Der letzte
Brief, den ich erhielt, war vom 17.1. Wahrscheinlich waren andere Transporte
notwendiger, und so sind die Briefsendungen irgendwo liegen geblieben.
Du hast Recht. Helga hat wegen des Nikolausbriefes wirklich
das „nicht“ vergessen, denn den Brief haben wir noch nicht erhalten. Den können
wir, glaube ich, als verloren betrachten. Dass der Kalender von Papa
weggekommen ist, ist schade. Papa wird sich sicher ärgern. Aber bei solchen
Sachen muss man eben ganz feste Umschläge nehmen, sonst zerreißen sie.
Du schreibst, dass Du wieder Briefpapier an mich wegschickst
und erwähnst dann „was ich jetzt wegschicke, brauche ich nicht zu verpacken.“
Warum müsstest Du es sonst verpacken? Musst Du wieder umziehen, oder kommt Ihr
überhaupt woanders hin? Aber das wird sicher in den Briefen stehen, die noch
fehlen.
Den Speisezettel werde ich Dir also mitschreiben, wenn es
Dich nicht langweilt. Ich meine eben auch, Du würdest daraus sehen, dass wir
noch nicht hungern müssen.
Jetzt ist ja das neue Gesetzt gekommen, dass alle schaffen
müssen. Ich wäre ja eigentlich noch damit verschont, weil ich 2 Kinder unter 14
Jahre habe, aber deswegen gehe ich doch so oft als möglich zum Nähen. Denn
untätig will ich auch nicht sein. Wenn der Garten wieder an die Reihe kommt,
wird es wahrscheinlich sowieso nur noch 1x in der Woche gehen.
Aber es gibt so Viele, die noch gar nichts tun. Es haben
wirklich schon Manche, vor allen Dingen die, die schon arbeiten, auf dieses
Gesetzt gewartet. Denn wenn man aus dem Geschäft kommt und sieht so Viele im
Cafe sitzen oder spazieren gehen und nichts tun, das ist ärgerlich.
Nun lass mich schließen. Ich grüße und küsse Dich ganz
herzlich und wünsche, dass Du immer gesund bleibst, Deine Annie.
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