Sonntag, 30. Juli 2017

Brief 388 vom 28.7.1942


Mein liebster Ernst!                                                        Konstanz, 28.7.42

Nun geht wieder ein schöner Tag vorbei. Wir sind am Morgen gegen 9 Uhr auf die Mainau gelaufen und haben uns alle in Ruhe angesehen. 1.15 Uhr sind wir nach Meersburg gefahren. Wir sind durch die Stadt gestiefelt und haben uns das Schloss angesehen. Und nun muss ich sagen, dass ich bei der Besichtigung sehr angenehm enttäuscht war. Rumgeführt wurde man nicht mehr, sondern bekam einen Führer, den man wieder abgeben musste, in die Hand gedrückt. Wir haben viel mehr gesehen, als man früher besichtigen konnte. Erst die Zimmer der Droste, dann die Schmiede, den Rittersaal, Waffengang, Kapelle, Gerichtssaal, Burgverließ. Das letzte war besonders interessant. In der Mitte des Zimmers ist ein rundes Loch (Angstloch genannt), da sieht man ganz in die Tiefe. (Jetzt ist unten Licht angebracht!) Durch dieses Loch, 1 Meter im Durchmesser, konnten die Gefangenen beobachtet werden. An der Seite, außerhalb des Verließes, ging eine Treppe bis ca. 2 Meter über dem Boden. Da befand sich eine Tür. Später ist scheinbar die Treppe noch bis ganz hinunter gebaut worden. An der Wand im Zimmer sind einige Sätze photographiert, die Gefangene in die Wand geritzt haben. Einer hat mich besonders berührt: “Gebt mir den Frieden“ heißt er. Was mag dieser Mensch wohl gelitten haben? Ein anderer schrieb: „Christus ist meine Hoffnung“. So sind noch einige Sachen da.
Wie geschrieben stand, sind einige auch zum Tode des Verhungerns verurteilt worden.
Nach dem Verließ haben wir zwei Zimmer mit alten Trachten besichtigt und dann einen unterirdischen Gang, der im Pferdestall in 1,5 Meter Höhe beginnt und so breit ist, dass gerade ein Mann laufen kann. Er wurde von 400 Bergknappen um 1300 gebaut. Als 1334 die Burg belagert wurde, vergeblich, wurden durch den Gang, der bis zum See hinunter ging, während der Nacht Lebensmittel zur Burg gebracht.Nach der Burg haben wir uns die kath. Kirche ganz auf dem Berg angesehen. Später sind wir mit der Fähre und dem Omnibus heimgefahren.
Jörg war heute ein richtiger Clown. Auf der Fähre war auch ein Heuwagen. Wir standen auf so einem hohen Turm an der Seite der Fähre. Plötzlich sagt Jörg ganz trocken: „Wenn jetzt hier ´ne Kuh wäre, die hätte zu fressen.“ Er hat noch so manchen Unsinn gemacht.
Wir haben heute alle ganz frische Farben bekommen, von der Luft und der Sonne. Müde sind wir auch geworden.
Ich möchte dir noch für deinen lieben Brief vom 15./16. Danken, den ich heute Abend im Briefkasten vorgefunden habe. Beantworten tue ich ihn morgen, denn mir fallen jetzt die Augen zu. Die 20.-Mk. für Jörg sind heute früh auch gekommen. Ich werde nun sehen, wie ich sie verwenden kann, ob ich evtl. etwas zu kaufen bekomme.
Ich grüße und küsse dich wieder recht herzlich und denke immer an dich Deine Annie.

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