Sonntag, 18. Juni 2017

Brief 355 vom 15./16.6.1942


Mein lieber Ernst!                                                   Konstanz, 15.6.42            

Auch heute ist es wieder spät geworden, ehe ich zum Schreiben komme. Am Morgen hatte ich zu putzen, dann zu bügeln, dann Essen zu kochen. Am Nachmittag war ich in der Stadt einkaufen, dann musste ich Jörg beim Zusammenbau eines Flugzeugmodells helfen, dann haben wir Abendbrot gegessen und hinterher habe ich noch Marmelade eingekocht. So ist der Tag vergangen.
Heute Morgen erhielt ich von Papa ein Päckchen mit einigen Zeitungen und für Jörg Modellierbogen für einen Zerstörer, ein Flugzeug und Soldaten. Von Erna erhielt ich auf mein Schreiben einen Brief, über den ich mich gefreut habe, da er vernünftig geschrieben ist. Ich schicke dir morgen eine Abschrift mit. Heute bin ich schon zu müde.

16.6.

Eigentlich wollte ich gestern weiter schreiben, aber mir fielen dabei immer die Augen zu. Ich bin dann gleich ins Bett gegangen und habe doch nicht gut geschlafen, sondern lauter dummes Zeug durcheinander geträumt.
Nun nochmal zu Erna´s Brief. Ich kann ihr nur Recht geben, wenn sie nicht mit Pap und seiner Frau zusammen wohnen will. Es klappt jetzt schon nicht, geschweige denn nachher. Papa will nicht einsehen, dass sich, wenn er heiratet, vieles ändert. Aber es ist doch so. Ich werde ja z.B. auch nicht mehr nach Leipzig in Ferien reisen, denn was soll ich bei einer fremden Frau? Doch für heute genug davon. Ich werde ja sehen, was ich weiter für Briefe bekomme.
Eben kam der Briefträger und brachte mir deinen lieben Brief vom 3.6. Daß man es doch so merkt, wenn Deutsche da sind. Daß da gleich so viel größere Ordnung herrscht. Mit der Feldbestellung müssen wir uns ja hier nicht mehr plagen. Wenn dort richtig angepackt wird, kann ja wohl die Versorgung weitgehend gesichert werden. Aber in diesen Jahren ist wohl noch mit viel Sabotage zu rechnen.
Das ist gut, wenn du dort jemanden aus Lindenberg getroffen hast, der auch Alfred Seifert kennt. Wie doch manchmal der Zufall spielt.
Über Gewittermangel haben wir hier auch nicht zu klagen. Im Anschluß an das letzte Gewitter regnet es noch immer mit kurzen Unterbrechungen und es ist sehr kühl geworden. Das ist schade für die Erdbeeren und manches Heu auf dem Land geht auch kaputt. Ca. 15 Pfund Erdbeeren haben wir bisher geerntet. Am Sonntag haben die Kinder Vater 2 Pfund runter gebracht. Seine Erdbeeren wird er ja schon vermissen.
Nun will ich dir noch von den Kindern aus der Schule erzählen. Jörg ist zum ersten Mal an den Ohren gezogen worden, weil er in der Religion gegessen hat. Helga hätte sich ja da schwer gekränkt, aber Jörg macht sich da nichts draus. „Religion ist gar keine richtige Schule und ich habe schon mal gegessen, da hat er mich bloß nicht erwischt.“ Als ich die Kinder mal rein rufen wollte, hörte ich gerade, wie sich Jörg mit anderen Buben unterhielt über Tatzen usw. Jeder wußte was, was er angestellt hatte und Jörg lachte ganz zufrieden, dass er auch mit etwas aufwarten konnte. Ganz große Töne hat er gemacht.
Bei Helga ist es nun ganz anders. Ich schrieb dir ja schon, dass ihr das Kopfrechnen etwas schwer fällt. D.h. zuhause, wenn ich mit ihr übe, geht es ganz gut, aber wenn sie etwas aufgeregt wird, ist es aus. So auch manchmal in der Schule, wenn es schnell gehen soll. Einmal kam sie auch heim. Da hat sie die Lehrerin vor gerufen und angeschimpft. Das wäre die Höhe, sie sollte sich was schämen, wenn sie das nicht mal könnte usw. Vorige Woche war wieder was anderes. Da hatte Helga etwas nicht richtig verstanden und demgemäß auch geschrieben. Da hat die Lehrerin auch getobt und zuletzt das Heft auf die Erde gepfeffert. Helga kränkt sich darüber schwer. Daß die Lehrerin aber sonst mit ihr zufrieden sein muss zeigt doch, dass sie meinte, sie könne mit in die Hauptschule. Ich weiß garnicht, ob ich dir schon mal davon geschrieben habe. Mittwochs ist doch Spielschar. Ich lasse Helga ja wegen der Frau Synkwiß nicht mehr hin gehen.
Die Kinder, die nun nicht in die Spielschar gingen, bekamen jedesmal so viel Hausaufgaben auf. Außerdem wurde jedesmal gefragt, warum sie nicht gingen. Da bin ich mal in die Schule gegangen und habe der Lehrerin gesagt, dass sie von mir aus nicht gehen darf. Das wollte sie vorher der Helga nicht glauben, da sie nicht den Grund angegeben hatte. Ich fand es aber nicht nötig, dass alles in die Klasse hinausposaunt wird. Aber wie mir scheint, ist die Lehrerin überhaupt neugierig. Zum Muttertag war auch so ein Theater. Helga mußte einen Aufsatz darüber schreiben. Zufällig mußte sie auch vorlesen. Als sie an den Satz kam:“…mußte sich meine Mutter die schönen Geschenke ansehen“ mußte sie aufhören und die Lehrerin sagte:“ Hör mit Geschenken auf. Was werdet ihr schon für schöne Geschenke haben. Hättet ihr Eurer Mutter lieber Blumen geschenkt, da hätte sie mehr Freude gehabt.“ Ist das nicht ein Quatsch? Wenn sie von ihren Kindern (sie hat 3) lieber Blumen mag, ist das ihre Sache. Ich habe mich jedenfalls sehr über ihre viele Mühe gefreut. Blumen hätten sie bestimmt leichter kaufen können, denn überall hat man Kinder mit einem Blumenstock gesehen. Und nachdem ich den wunderschönen Strauß von Dir bekam, wäre der Blumenstock vielleicht in den Hintergrund getreten. So aber stand der Strauß da, davor das Messer und der Teller und das kleine Buch. Dazu die Karten und Zettel mit viel Liebe gemalt. Aber das hatte die Lehrerin doch erreicht, daß sich Helga die ganze Zeit Gedanken machte, ob ich mich über ihre Sachen auch wirklich gefreut habe.
Bei unserem Apfelbaum sieht man schon die kleinen Äpfel leuchten. Wenn alle groß würden, gäbe es eine gute Ernte. Es kommt aber noch sehr auf´s Wetter an.
Nun will ich schließen. Ich muß an´s Kochen denken. Sei recht herzlich gegrüßt und geküsst von Deiner Annie.

Mein lieber Ernst!                                                               Konstanz, 16.6.42     

Diesmal müssen wir schon beizeiten an deinen Geburtstag denken, wenn dich der Brief noch erreichen soll. Du bist ja diesmal an diesem Tag auch nicht daheim und noch weiter weg, wie beim letzten Mal. Aber in unseren Gedanken werden wir bei dir sein.
Ich wünsche dir für das kommende Lebensjahr vor allem, daß du gesund bleibst und daß es dir nicht schlecht gehen möge. Weiter wünsche ich, auch mit als Wunsch für uns, daß du in nicht zu langer Zeit wieder einmal Urlaub bekommst, und daß wir uns alle nach dem Krieg gesund wiedersehen.
Ich hätte dir gern zum Geburtstag einige kleine Überraschungen bereitet, aber es ging nicht zu machen. So mußte ich mich darauf beschränken, dir nur eine Kleinigkeit zu backen. Aber um dir doch eine kleine Freude zu machen, habe ich die Kinder einige Male photografiert und schicke dir die Aufnahmen, zusammen mit zwei Bildern, die wir während deines Urlaubs gemacht haben, mit. Ich hoffe, daß sie dir gefallen.
Im vergangenen Jahr hatten wir ja gehofft, daß du dieses Jahr wieder daheim wärst. Leider ging dieser Wunsch noch nicht in Erfüllung. Vielleicht ist es nächstes Jahr der Fall. Das wäre ja eine große Freude. Die Hoffnung darauf wollen wir nicht aufgeben. Wie waren doch die Jahre schön, als du daheim warst. Und die Geburtstage  waren immer liebe Feste, nicht wahr? Vielleicht können wir sie doch bald wieder zusammen feiern.
Verlebe deinen Geburtstag gesund und denke daran, daß wir mit unseren Gedanken bei dir sind.
Ich grüße und küsse Dich recht herzlich, Deine Annie.

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