Donnerstag, 1. Juni 2017

Brief 338 vom 29.5.1942


Mein liebster Ernst!                                                   Konstanz, 29.5.42

Ganz erstaunt war ich heute, als ich schon deinen lieben Brief vom 23. erhielt, nachdem ich zuletzt den vom 15. bekam. Vielleicht hast du ihn einem Kameraden mitgegeben, denn er ist am 28. in Wien abgestempelt worden. Jedenfalls war es für mich eine richtige, schöne Überraschung. Leid hat es mir nur getan, dass du auch am 23. noch keinen Brief von uns hattest, denn ich hatte bestimmt damit gerechnet, dass du wenigstens nach 14 Tagen, so am 21./22. einen Gruß von uns bekommen würdest.
Zu Pfingsten sind wir ja nicht über den See gefahren, wie du gehofft hattest. Es soll auch ein furchtbarer Betrieb gewesen sein und ich gehe da lieber da hin, wo es ein bisschen stiller ist.
Wenn du nicht hier bist, muß ich mich sowieso immer zwingen, einmal fort zu gehen. Ich habe zu nichts rechte Lust, vor allem noch am Sonntag.
Wenn du schreibst, du hast noch keinen Kameraden gefunden, mit dem du mal deine Gedanken austauschen kannst und der eine habe so eigenartige Ansichten, so muß ich dir sagen, mir geht es hier auch so. Über die Ansichten von deinem Vater rege ich mich auch manchmal auf, sobald das Gespräch über das ganz alltägliche hinaus geht. Er ist sonst ein guter Kerl, aber über Politik usw. kann ich nicht mit ihm reden. Gestern war ich auch über etwas anderes enttäuscht. Ich habe doch jetzt immer im Garten geschafft und habe ihn bestimmt in Ordnung und alles steht gut da. Ich habe mich nun gefreut und zeigte ihn AUCH Vater. Ich dachte, vielleicht sagt er, dass alles schön in Ordnung sei. Das hätte mich bestimmt gefreut. Aber nein, das erste war, dass er meinte, ich hätte die Kartoffeln falsch geharkt, die müssten doch gehäufelt sein. Ich sagte ihm, das käme auch noch dran, aber erst müssten sie so geharkt werden. „Na, ich habe sie immer gleich gehäufelt“ war die Antwort. Ich konnte ihm aber zeigen, dass es die anderen genau wie ich gemacht haben. Das ist eigentlich alles nicht der Rede wert, aber jetzt, wo ich eigentlich immer nur ein halbes Leben mit Arbeit führe, hätte mir eine kleine Anerkennung wohl getan. Du musst nun nicht denken, dass ich es nicht verstehe, wie einsam du dort bist. Ich habe hier immer noch unsere Kinder, bin also viel besser dran, wie du, und ich lebe auch noch in der Heimat. Es ist also gar kein Vergleich zu dir.
Du schreibst, dass du dir zwei Tafeln Schokolade aufgespart hast und sie uns schicken willst. Lieber Ernst, bitte, spar dir doch nicht alles für uns ab. Dir wird eine Tafel Schokolade bestimmt auch nichts schaden. Du hast doch dort auch nicht viel. Nicht wahr, denke bitte auch an dich.
Helga war heute zum ersten Mal beim KdF-Turnen. Bisher klappte es nie. Erst war sie krank, dann war wegen der Ferien kein Turnen. Aber heute kam sie freudestrahlend heim, so gut hatte es ihr gefallen. Sie freut sich schon auf das nächste Mal.
Von Papa erhielt ich gestern einen Brief, von dem du ja auch einen Durchschlag bekommen hast. Ich bin froh, dass alles soweit in Ordnung ist, denn es ist mir schrecklich, sich so dauernd hin und her zerren zu müssen. Papa will ja nun doch in seinen Ferien herkommen und vielleicht kann ich da noch mal mit ihm reden. Wie ich aus dem Brief ersehe, klappt es ja in Leipzig gar nicht mehr, und ich bin bald der Meinung, Papa und Erna und Siegfried sollten sich bald trennen. Eine lebt ja dem anderen zu Leid. Papa lässt sich von der Heirat nicht abbringen, und ein gutes Einvernehmen kommt doch nicht mehr zustande. Ein Bild von dem Fräulein schicke ich dir heute mit. Sie ist mit einem Kreuzle angezeichnet.
Heute regnet es einmal richtig kräftig. Das ist so gut. Der Boden war schon wieder strohtrocken und man musste immer gießen. Als es sich am Vormittag bewölkte, habe ich gleich noch die Kartoffeln im Garten hinterm Haus geharkt. Vorläufig bin ich nun mit der meisten Arbeit im Garten einmal fertig. Nächste Woche will ich erst wieder einmal nähen. Am Montag habe ich ja erst Wäsche.
Heute schicke ich noch einige ältere Zeitungen an dich ab. Es sind welche von Papa.
Nun grüße und küsse ich dich für heute recht herzlich, Deine Annie.

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