Samstag, 23. September 2017

Brief 427 vom 22.9.1942


Mein liebster Ernst!                                       Konstanz, 22.9.42

Dass ich gestern nicht geschrieben habe, musst Du bitte entschuldigen. Gestern Nachmittag war ich mit Papa im Kino und gestern Abend war Luftschutzübung. Da hättest Du dabei sein müssen. Das reine Theater. Aus Karlsruhe war natürlich niemand da, das war Schwindel vom Schwehr. Dafür kam der Lehrer Leiber. Er hat uns erst einen Vortrag gehalten. Dann fragte er, ob alles in Ordnung sei. Ich sagte nein, der Speicher von Büsings sei dermassen in Unordnung, dass kein Mensch laufen könnte. (da liegt nämlich alles durcheinander, Wäsche, Wäsche- und Sterilisiertöpfe, Koffer, Kinderwagen, Betten usw.) Papa hatte mir gesagt, ich sollte es melden, da ich ja als erster Feuerwehrmann im Ernstfalle der Dumme sei.
Der Lehrer sagte zum Schwehr, er solle danach sehen. Der hat es natürlich übergangen. Frau Büsing war auch nicht erschienen. Sie hätte ja nicht tun brauchen, nur zuzuhören, damit sie auch Bescheid weiß. Dafür hat sie am Fenster geguckt. Darüber haben wir uns auch beschwert, dass sie nicht herunter kommt und auch nie den Luftschutzkeller aufsucht. Wir haben gesagt, dass wir uns im Ernstfalle nicht um diese Familie kümmern würden, denn warum sollen wir wegen deren Dummheit unser Leben gefährden?
Es war dann noch viel Theater. Im Nebenhaus auf dem Speicher haben wir löschen geübt. Trotzdem es vorgeschrieben war, hatte ich als einzige richtige Luftschutzkleidung an (wofür ich zwar auch ein Lob geerntet habe.)
Da Männer, wenn sie da sind, auch mit helfen müssen, hat Herr Leimenstoll mitgeholfen. Er hat sich flach auf den Boden geworfen und hat die Spritze gehalten, ich das Schutzschild. Dann musste ich Rauchvergiftung markieren, dafür musste Frau Bolz antreten. Sie hatte sich ganz in eine Ecke verzogen, damit sie nicht in der Nähe von Herrn Schwehr stand, dafür hatte sie aber wenigstens ihr bestes Kleid angezogen, sodass sie sich überhaupt nicht bewegen konnte.
Unten vorm Haus wurde dann wenigstens gleich die Gelegenheit benutzt, um zwischen Schwehr und Bolz einen Krach zu fabrizieren. Es war sehr erbaulich. Der Schwehr suchte durch schreien zu imponieren, und Frau Bolz konnte ihren Schnabel auch nicht halten. Zum ersten Mal sprach Herr Bolz dazwischen und war wesentlich ruhiger, als der Schwehr. Das bewog Papa, Herrn Schwehr die Meinung zu sagen, worüber sich alle fest gefreut haben. Papa sagte zu ihm:
„Wissen Sie, Herr Schwehr, wenn ich hier wohnte und sie brüllten mich so an, da wäre in den nächsten Minuten eine Meldung bei der Kreisleitung: ´Setzen Sie den Mann ab, der eignet sich ganz und gar nicht zum Luftschutzwart´. Sie haben doch keine Schulbuben vor sich, mit denen Sie so umspringen können, nein, nein, das geht nicht. Entweder müssen Sie sich in Ruhe Respekt verschaffen, oder Sie eignen sich nicht für das Amt.“
Nun wollte Herr Schwehr sagen, Papa hätte hier nichts zu bestimmen, aber der ließ sich nichts sagen.
„Wissen Sie, wenn ich als Gast mit antreten muss, dann kann ich auch was sagen.“ Nachher sagte Herr Schwehr zu mir, sehr verärgert, das wegen Frau Büsing hätte ich nicht erst melden müssen, das hätte er allein gewusst, aber sie hätte ihn am Tage vorher schon so angebrüllt, als er ihr sagte, dass sie mit antreten müsste. Als wir dann ins Haus gingen, hatten Büsings aus reiner Bosheit das Haus abgeschlossen, trotzdem sie es im ganzen Jahr nicht tun. Also Freude über Freude. Jedenfalls hatte ich gar keine Lust mehr zum Schreiben. Mir war alles vergangen. Nur gut, dass wir anderen 3 Familien im Haus so gut harmonieren, und nur ein schwarzes Schaf da ist. Heute früh haben wir über alles wieder richtig lachen müssen.
Gestern erhielt ich Deinen lieben Brief vom 10. Und heute den vom 7.9. Ich danke Dir für beide sehr. Ich will sie nun nach und nach beantworten.
Vor allem wegen Helga ihrer Brust. Ich schrieb Dir ja, dass es immer noch hart war. Wir haben immer weiter gewärmt und eingerieben. Vorige Woche tat es ihr ziemlich weh. In der Nacht vom Freitag zum Samstag bekam Helga aus der Scheide plötzlich einen ganz scheußlichen Ausfluss, etwas gelb, bald wie Eiter. Ich habe es erst im Nachthemd gesehen, als Helga in der Schule war. Als sie heim kam, fragte ich, wieso das gekommen sei. Sie sagte, es sei auch am Vormittag so gewesen. Ich wollte gleich zum Arzt mit ihr gehen, aber am Samstagnachmittag ist geschlossen. Ich habe ihr da gleich ein Dampfbad machen lassen. Es hatte aber schon aufgehört und ist bis jetzt nicht wieder gekommen, aber an der Brust ist der harte Knollen seitdem ganz verschwunden. Ich will nun in den nächsten Tagen mit Helga nochmals zum Arzt und fragen, ob das zusammen hängt. Ich glaube es sicher, will mich aber doch vergewissern. Die Brust tut ihr seitdem auch nicht mehr weh.
Wegen dem Nähen ist es so, dass ich ganz gern gehe und auch gern helfe, wenn ich kann. Weißt Du, auf die Höheren kann sich der Führer doch nicht so verlassen, da müssen wir anderen schon alle zusammenstehen. Die Reichen, die hängen zu sehr an ihrem Geld, da kommt nichts dagegen auf. Erst jetzt ist hier wieder ein Berliner Industrieller über die Grenze beim Paradies gefahren. Er hatte sich als Beauftragter für irgendwas ausgegeben, und hat dadurch auch erfahren, wenn die Grenze für die Paradieser Gärtner aufgemacht wird und mit 80 Sachen ist er nach der Schweiz gebraust. Ich will damit nicht sagen, dass alle so sind, aber mit diesen Leuten allein würden wir keinen Krieg gewinnen.
Wegen des Geburtstagsbriefes für Vater hast Du mich falsch verstanden. Du meinst, ich hätte ihm den Durchschlag Deines Briefes gegeben, ich habe ihm aber den Originalbrief gegeben, denn den hattest Du wohl an Adolf Rosche, aber nach der Wollmatinger Straße geschickt, sodass er mir mit gegeben wurde.  Ich freue mich auch, dass ich mich mit Vater so gut verstehe. Ein guter Kerl ist er doch, das musste sogar Papa anerkennen, wenn er auch die Einschränkung machte, dass er eben ein bißchen ein Sonderling ist. Dein Vater freut sich aber auch selber, dass wir uns gut verstehen, das hat er erst jetzt wieder zu Papa gesagt. Dass er immer so lange hier bleibt, nehme ich ihm nicht übel, und es macht mir auch nichts weiter aus. Er kommt ja selten, und da ist er eben auch müde vom Schaffen, den ganzen Tag. Er wird eben auch älter und ist nicht mehr so fest, wie früher. Wir wissen ja auch nicht, wie es uns später mal geht.
Im Wege war mir Dein Briefmarkenalbum nicht, es war mir nur immer nicht recht, dass ich so gar keinen guten Platz dafür hatte. Die Briefmarken sind doch Deine Freude, und so sollen sie doch nicht so nebensächlich behandelt werden, sondern sollen auch ihren richtigen Platz haben.
Mit Wäsche bin ich wirklich ganz gut versorgt. Da brauchte ich in nächster Zeit nichts mehr kaufen. Die Hauptsache ist natürlich, dass wir alles heil aus dem Krieg bringen. Aber wenn ihr, meine Lieben, alle gesund bleibt, so soll mir das sogar noch gleich sein. Sachen kann man wieder erarbeiten, Leben nicht.
Um den Garten bin ich immer wieder froh. Man kann sich doch mit manchem helfen. Auc gerade mit den Kartoffeln. Und das Obst nicht zu vergessen. Das haben ja viele Menschen jetzt nicht. Das tut auch den Kindern gut.
Das war der Brief vom 7. Nun will ich den vom 8. Beantworten, den mir der Briefträger soeben gebracht hat, und über den ich lachen musste wegen des russischen Leimes. Also mein Wasserglas ist vollkommen geruchlos, was ja ein großer Vorteil ist, denn Limburger Käse, überhaupt Käse, rieche ich nicht gern.
Wie ich Dir schon schrieb, hat Helga im Schwimmen große Fortschritte gemacht. Bei Jörg klappt es noch nicht ganz. Er bekommt die Beine noch nicht hoch. Wenn ich ihn  aber an der Seite der Badehose halte, geht es schon ganz gut. Ich denke, dass er es auch bald raus haben wird.
Lachen muss ich auch, wenn Du schreibst, dass ich ja wüsste, dass du nicht zu wiedersprechen wagen würdest, auch wenn Du nicht mit dem Kauf eines Hutes einverstanden wärst. Ja, das weiß ich ganz genau, Du armer Kerl. Du traust Dir ja nicht, den Mund aufzutun. Du bist zu bedauern. Meinst Du nicht auch, oder bist Du anderer Meinung?
Die Berliner Illustrierte werde ich also nicht mehr kaufen, während ich Dir die anderen auch weiterhin zuschicke.
Es ist mir wirklich immer eine Beruhigung, wenn ich weiß, wo Du bist, und wie Du untergebracht bist. Wenn die Kameraden auch weiterhin nett sind, so freut mich das sehr. Dass jeder seine Eigenheiten hat, das ist ja nun mal so. Aber Du bist ja auch verträglich. Wenn einer nicht besonders boshaft ist, geht es meistens.
Die Lehrerinnen der Kinder sind scheinbar ganz ordentlich. In nächster Zeit will ich mal zur Lehrerin gehen und mit ihr reden, weil Helga jetzt manchmal so matt und nervös ist, damit sie vielleicht ein bißchen Rücksicht nimmt. Auch wegen der Hauptschule will ich mit ihr sprechen. Aber dafür sollte schon bald ein viertel Jahr vergangen sein, damit sie die Kinder erst richtig kennt.
Papa fährt am Freitagnachmittag wieder weg. Die Tage sind bisher ganz friedlich vergangen. Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass es vielleicht doch besser ist, wenn er heiratet. Er ist doch noch ziemlich lebenslustig, und so hat er dann noch seine richtige Ordnung. Für immer harmonieren Papa und Erna doch nicht zusammen. Ich schreibe Dir drüber noch näher, wenn Papa wieder fort ist.
Heute ist der erste Regentag, den wir seit Papas Kommen haben. Papa weiß nicht, was er machen soll. Er möchte immer was schaffen, und so viel hab ich nicht für ihn zu tun. Gestern hat er mir noch die alten Bretter und Holzstücke im Vorraum zersägt und gehackt, sowie den Bienenkorb kaputt gemacht. Es hat alles ziemlich viel Holz ergeben. Die Wände des Bienenkorbes, die aus ziemlich dick geflochtenem Stroh bestehen, nehmen wir jetzt im Luftschutzkeller unter die Füße. Das wird sicher warm halten.
Nun lass mich wieder schließen. Was ich gestern nicht schrieben konnte, das habe ich doch heute wieder gut gemacht, nicht wahr?
Ich grüße und küsse Dich recht herzlich, mein allerliebster Ernst, Deine Annie.

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