Mein liebster Ernst! Konstanz,
22.9.42
Dass ich gestern nicht geschrieben habe, musst Du bitte
entschuldigen. Gestern Nachmittag war ich mit Papa im Kino und gestern Abend
war Luftschutzübung. Da hättest Du dabei sein müssen. Das reine Theater. Aus
Karlsruhe war natürlich niemand da, das war Schwindel vom Schwehr. Dafür kam
der Lehrer Leiber. Er hat uns erst einen Vortrag gehalten. Dann fragte er, ob
alles in Ordnung sei. Ich sagte nein, der Speicher von Büsings sei dermassen in
Unordnung, dass kein Mensch laufen könnte. (da liegt nämlich alles
durcheinander, Wäsche, Wäsche- und Sterilisiertöpfe, Koffer, Kinderwagen,
Betten usw.) Papa hatte mir gesagt, ich sollte es melden, da ich ja als erster
Feuerwehrmann im Ernstfalle der Dumme sei.
Der Lehrer sagte zum Schwehr, er solle danach sehen. Der hat
es natürlich übergangen. Frau Büsing war auch nicht erschienen. Sie hätte ja
nicht tun brauchen, nur zuzuhören, damit sie auch Bescheid weiß. Dafür hat sie
am Fenster geguckt. Darüber haben wir uns auch beschwert, dass sie nicht herunter
kommt und auch nie den Luftschutzkeller aufsucht. Wir haben gesagt, dass wir
uns im Ernstfalle nicht um diese Familie kümmern würden, denn warum sollen wir
wegen deren Dummheit unser Leben gefährden?
Es war dann noch viel Theater. Im Nebenhaus auf dem Speicher
haben wir löschen geübt. Trotzdem es vorgeschrieben war, hatte ich als einzige
richtige Luftschutzkleidung an (wofür ich zwar auch ein Lob geerntet habe.)
Da Männer, wenn sie da sind, auch mit helfen müssen, hat
Herr Leimenstoll mitgeholfen. Er hat sich flach auf den Boden geworfen und hat
die Spritze gehalten, ich das Schutzschild. Dann musste ich Rauchvergiftung
markieren, dafür musste Frau Bolz antreten. Sie hatte sich ganz in eine Ecke
verzogen, damit sie nicht in der Nähe von Herrn Schwehr stand, dafür hatte sie
aber wenigstens ihr bestes Kleid angezogen, sodass sie sich überhaupt nicht
bewegen konnte.
Unten vorm Haus wurde dann wenigstens gleich die Gelegenheit
benutzt, um zwischen Schwehr und Bolz einen Krach zu fabrizieren. Es war sehr erbaulich.
Der Schwehr suchte durch schreien zu imponieren, und Frau Bolz konnte ihren
Schnabel auch nicht halten. Zum ersten Mal sprach Herr Bolz dazwischen und war
wesentlich ruhiger, als der Schwehr. Das bewog Papa, Herrn Schwehr die Meinung
zu sagen, worüber sich alle fest gefreut haben. Papa sagte zu ihm:
„Wissen Sie, Herr Schwehr, wenn ich hier wohnte und sie
brüllten mich so an, da wäre in den nächsten Minuten eine Meldung bei der
Kreisleitung: ´Setzen Sie den Mann ab, der eignet sich ganz und gar nicht zum
Luftschutzwart´. Sie haben doch keine Schulbuben vor sich, mit denen Sie so
umspringen können, nein, nein, das geht nicht. Entweder müssen Sie sich in Ruhe
Respekt verschaffen, oder Sie eignen sich nicht für das Amt.“
Nun wollte Herr Schwehr sagen, Papa hätte hier nichts zu
bestimmen, aber der ließ sich nichts sagen.
„Wissen Sie, wenn ich als Gast mit antreten muss, dann kann
ich auch was sagen.“ Nachher sagte Herr Schwehr zu mir, sehr verärgert, das
wegen Frau Büsing hätte ich nicht erst melden müssen, das hätte er allein
gewusst, aber sie hätte ihn am Tage vorher schon so angebrüllt, als er ihr
sagte, dass sie mit antreten müsste. Als wir dann ins Haus gingen, hatten
Büsings aus reiner Bosheit das Haus abgeschlossen, trotzdem sie es im ganzen
Jahr nicht tun. Also Freude über Freude. Jedenfalls hatte ich gar keine Lust
mehr zum Schreiben. Mir war alles vergangen. Nur gut, dass wir anderen 3
Familien im Haus so gut harmonieren, und nur ein schwarzes Schaf da ist. Heute
früh haben wir über alles wieder richtig lachen müssen.
Gestern erhielt ich Deinen lieben Brief vom 10. Und heute
den vom 7.9. Ich danke Dir für beide sehr. Ich will sie nun nach und nach
beantworten.
Vor allem wegen Helga ihrer Brust. Ich schrieb Dir ja, dass
es immer noch hart war. Wir haben immer weiter gewärmt und eingerieben. Vorige
Woche tat es ihr ziemlich weh. In der Nacht vom Freitag zum Samstag bekam Helga
aus der Scheide plötzlich einen ganz scheußlichen Ausfluss, etwas gelb, bald
wie Eiter. Ich habe es erst im Nachthemd gesehen, als Helga in der Schule war.
Als sie heim kam, fragte ich, wieso das gekommen sei. Sie sagte, es sei auch am
Vormittag so gewesen. Ich wollte gleich zum Arzt mit ihr gehen, aber am
Samstagnachmittag ist geschlossen. Ich habe ihr da gleich ein Dampfbad machen
lassen. Es hatte aber schon aufgehört und ist bis jetzt nicht wieder gekommen,
aber an der Brust ist der harte Knollen seitdem ganz verschwunden. Ich will nun
in den nächsten Tagen mit Helga nochmals zum Arzt und fragen, ob das zusammen
hängt. Ich glaube es sicher, will mich aber doch vergewissern. Die Brust tut
ihr seitdem auch nicht mehr weh.
Wegen dem Nähen ist es so, dass ich ganz gern gehe und auch
gern helfe, wenn ich kann. Weißt Du, auf die Höheren kann sich der Führer doch
nicht so verlassen, da müssen wir anderen schon alle zusammenstehen. Die
Reichen, die hängen zu sehr an ihrem Geld, da kommt nichts dagegen auf. Erst
jetzt ist hier wieder ein Berliner Industrieller über die Grenze beim Paradies
gefahren. Er hatte sich als Beauftragter für irgendwas ausgegeben, und hat
dadurch auch erfahren, wenn die Grenze für die Paradieser Gärtner aufgemacht
wird und mit 80 Sachen ist er nach der Schweiz gebraust. Ich will damit nicht
sagen, dass alle so sind, aber mit diesen Leuten allein würden wir keinen Krieg
gewinnen.
Wegen des Geburtstagsbriefes für Vater hast Du mich falsch
verstanden. Du meinst, ich hätte ihm den Durchschlag Deines Briefes gegeben,
ich habe ihm aber den Originalbrief gegeben, denn den hattest Du wohl an Adolf
Rosche, aber nach der Wollmatinger Straße geschickt, sodass er mir mit gegeben
wurde. Ich freue mich auch, dass ich
mich mit Vater so gut verstehe. Ein guter Kerl ist er doch, das musste sogar
Papa anerkennen, wenn er auch die Einschränkung machte, dass er eben ein
bißchen ein Sonderling ist. Dein Vater freut sich aber auch selber, dass wir
uns gut verstehen, das hat er erst jetzt wieder zu Papa gesagt. Dass er immer
so lange hier bleibt, nehme ich ihm nicht übel, und es macht mir auch nichts
weiter aus. Er kommt ja selten, und da ist er eben auch müde vom Schaffen, den
ganzen Tag. Er wird eben auch älter und ist nicht mehr so fest, wie früher. Wir
wissen ja auch nicht, wie es uns später mal geht.
Im Wege war mir Dein Briefmarkenalbum nicht, es war mir nur
immer nicht recht, dass ich so gar keinen guten Platz dafür hatte. Die
Briefmarken sind doch Deine Freude, und so sollen sie doch nicht so
nebensächlich behandelt werden, sondern sollen auch ihren richtigen Platz
haben.
Mit Wäsche bin ich wirklich ganz gut versorgt. Da brauchte
ich in nächster Zeit nichts mehr kaufen. Die Hauptsache ist natürlich, dass wir
alles heil aus dem Krieg bringen. Aber wenn ihr, meine Lieben, alle gesund
bleibt, so soll mir das sogar noch gleich sein. Sachen kann man wieder
erarbeiten, Leben nicht.
Um den Garten bin ich immer wieder froh. Man kann sich doch
mit manchem helfen. Auc gerade mit den Kartoffeln. Und das Obst nicht zu
vergessen. Das haben ja viele Menschen jetzt nicht. Das tut auch den Kindern
gut.
Das war der Brief vom 7. Nun will ich den vom 8.
Beantworten, den mir der Briefträger soeben gebracht hat, und über den ich
lachen musste wegen des russischen Leimes. Also mein Wasserglas ist vollkommen
geruchlos, was ja ein großer Vorteil ist, denn Limburger Käse, überhaupt Käse,
rieche ich nicht gern.
Wie ich Dir schon schrieb, hat Helga im Schwimmen große
Fortschritte gemacht. Bei Jörg klappt es noch nicht ganz. Er bekommt die Beine
noch nicht hoch. Wenn ich ihn aber an
der Seite der Badehose halte, geht es schon ganz gut. Ich denke, dass er es
auch bald raus haben wird.
Lachen muss ich auch, wenn Du schreibst, dass ich ja wüsste,
dass du nicht zu wiedersprechen wagen würdest, auch wenn Du nicht mit dem Kauf
eines Hutes einverstanden wärst. Ja, das weiß ich ganz genau, Du armer Kerl. Du
traust Dir ja nicht, den Mund aufzutun. Du bist zu bedauern. Meinst Du nicht
auch, oder bist Du anderer Meinung?
Die Berliner Illustrierte werde ich also nicht mehr kaufen,
während ich Dir die anderen auch weiterhin zuschicke.
Es ist mir wirklich immer eine Beruhigung, wenn ich weiß, wo
Du bist, und wie Du untergebracht bist. Wenn die Kameraden auch weiterhin nett
sind, so freut mich das sehr. Dass jeder seine Eigenheiten hat, das ist ja nun
mal so. Aber Du bist ja auch verträglich. Wenn einer nicht besonders boshaft
ist, geht es meistens.
Die Lehrerinnen der Kinder sind scheinbar ganz ordentlich.
In nächster Zeit will ich mal zur Lehrerin gehen und mit ihr reden, weil Helga
jetzt manchmal so matt und nervös ist, damit sie vielleicht ein bißchen
Rücksicht nimmt. Auch wegen der Hauptschule will ich mit ihr sprechen. Aber
dafür sollte schon bald ein viertel Jahr vergangen sein, damit sie die Kinder
erst richtig kennt.
Papa fährt am Freitagnachmittag wieder weg. Die Tage sind
bisher ganz friedlich vergangen. Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass es
vielleicht doch besser ist, wenn er heiratet. Er ist doch noch ziemlich
lebenslustig, und so hat er dann noch seine richtige Ordnung. Für immer
harmonieren Papa und Erna doch nicht zusammen. Ich schreibe Dir drüber noch
näher, wenn Papa wieder fort ist.
Heute ist der erste Regentag, den wir seit Papas Kommen
haben. Papa weiß nicht, was er machen soll. Er möchte immer was schaffen, und
so viel hab ich nicht für ihn zu tun. Gestern hat er mir noch die alten Bretter
und Holzstücke im Vorraum zersägt und gehackt, sowie den Bienenkorb kaputt
gemacht. Es hat alles ziemlich viel Holz ergeben. Die Wände des Bienenkorbes,
die aus ziemlich dick geflochtenem Stroh bestehen, nehmen wir jetzt im
Luftschutzkeller unter die Füße. Das wird sicher warm halten.
Nun lass mich wieder schließen. Was ich gestern nicht
schrieben konnte, das habe ich doch heute wieder gut gemacht, nicht wahr?
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