Mittwoch, 8. November 2017

Brief 436 vom 8.11.1942


Mein lieber, lieberErnst!                                          Konstanz, 8.11.42
                                                                                                                        morgens ½ 9 Uhr
Wenn Du bis Berlin gefahren bist, fährst Du nun in einigen Minuten weiter. Da wirst Du schon im Zug sitzen, und vielleicht wirst auch Du an unseren Abschied gestern denken, denn in der Zeit sind ja nur 5 Minuten Unterschied. Um 8:35 Uhr hattest Du Dir gerade Deinen Platz gesucht. So schnell kam ja der Abschied heran. Aber wir haben wenigstens noch den Weg von daheim bis zum Bahnhof mit Dir gehen können. Das war noch schöner, als ein längeres Stehen am Zug. Aber doch kommt der Abschied dann zu schnell. Man meint, man müsste Dich noch halten können. Und doch fragt niemand danach. Es ist so herb.
Sonntag soll heute dem Namen nach sein. Es ist keiner, nein, es ist keiner. Einen richtigen Sonntag gibt es ohne Dich ja sowieso nicht. Ich habe nie die Ruhe dazu. Aber heute ist es ein ganz besonders einsamer Tag. Heute Nacht war ich um 0:44 Uhr, um 3:05 Uhr und um 3:27 Uhr munter, weil ich ja nicht weiß, ob Du über Güsten oder Berlin gefahren bist. Auch sonst war ich öfter munter und habe immer an Dich gedacht. Ich habe mir Deine Decken genommen, unter denen Du geschlafen hast. Ich habe mir Deinen Schlafanzug unter den Kopf gelegt, als wäre es Deine Schulter, an der ich öfter gelegen bin. Und doch glaubte ich nicht, dass Du fort bist.
Heute Morgen habe ich Deinen Namen gerufen, als ich aufwachte. Vielleicht war es doch nur ein schlimmer Traum, dass Du fort bist. Aber nein, es war Wirklichkeit. Du antwortetest mir nicht. Alles war still. Du bist fort, wirklich fort. Mir ist es schwer, und auch Dir wird es schwer sein. Alles hast Du hinter Dir lassen müssen, und nun musst Du wieder so lange auf der Bahn sein. Ich habe Dich noch vor mir, wie Du gestern noch einmal durch die Stuben gingst, dann Deine Sachen nahmst und sagtest: „ Es hat ja alles keinen Zweck, wir wollen es uns nicht noch schwerer machen.“ Siehst Du, jetzt sitzen wir wieder hier am Tisch. Wie schön wäre es, wenn Du, wie in den letzten Wochen, aus dem Schlafzimmer heraus kommen würdest. Was für eine Freude wäre das. Aber bis dahin wird wohl noch eine Weile wieder vergehen. Die Hoffnung wollen wir nicht aufgeben, dass es doch nicht gar zu lange dauern möge. Bleibe nur gesund, bleibe gesund, mein lieber, lieber Ernst, das wir noch lange Jahre zusammen sein können. Ich habe sonst keine Wünsche, nur Dich, nur Dich und auch die Kinder möchte ich behalten. Alles andere ist nicht so wichtig. Das werden wir schon miteinander durchstehen. Komm mir wieder, ernst, komm wieder.
Es ist jetzt ¼ 10 Uhr geworden und Du fährst nun wieder. Ich esse nur schnell was und gehe dann ins Waschhaus. Ich halte es hier in der Wohnung nicht aus.

                                                                                                ¼ 8 Uhr abends

Mein lieber Ernst!

Um 5 Uhr war ich mit der Wäsche fertig. Die Kinder wollten heute in den Film „Schneewittchen“ gehen. Gegen ½ 4 Uhr kamen sie wieder und sagten, dass so ein Gedränge gewesen und dass zuletzt die Vorstellung ausverkauft gewesen sei. ¾ 4 sollte noch eine Aufführung sein, aber so lange hätten sie nicht gewartet, sondern seien dafür in die Ausstellung „Kunst der Front“ gegangen. Jörg hat sich eine Karte „Stukas“ gekauft und Helga ein Heft, in dem alle ausgestellten Bilder verzeichnet sind. Es hat ihnen gut gefallen. Als sie heim kamen, haben sie sich noch zu mir in die Waschküche gesetzt, bis wir um 5 Uhr herauf gehen konnten. Da habe ich dann in der Küche Feuer gemacht, damit wir nicht frieren mussten.Helga hat sich ihre Briefmarken geholt und verschiedene eingeklebt. Ich musste ein Bisschen mithelfen. Wir haben sie sortiert und schauen nun im Michel-Katalog nach, in welcher Reihenfolge sie eingeklebt werden müssen. Jörg hat seine Marken auch geholt, aber ich kann erst nur mal einem helfen. Er hat das auch eingesehen. Jetzt, während ich schreibe, schauen beide im Katalog nach. Inzwischen haben wir auch Abendbrot gegessen und die Kinder gehen bald ins Bett. Sie wollen nur noch den Brief mit wegschaffen. Vorhin hat Helga wieder Geschirr abgetrocknet und sie sagt immer wieder, dass sie sich freut, dass sie es Dir versprochen hat, mir mitzuhelfen. Sie möchte Dir doch so gern eine Freude machen.
Nun muss ich dir auch noch mitteilen, dass ich gestern einen Brief von Erna erhielt. Sie schreibt, dass sie sich in ihrer Wohnung schon etwas eingewöhnt hat. Raum hätten sie ja genug, und mit der Frau Ludwig käme sie schon aus. Dann schreibt sie, ich solle kein erstauntes Gesicht machen, ich würde nun auch Tante. Ende Mai käme bei ihnen ein kleines Schwälbchen an. Eilenburg hätte ihnen nun Glück gebracht und sie freuten sich beide sehr. Sie fühle sich soweit wohl, aber einen Marsch von der Reichenau bis nach Konstanz könnte sie nicht mehr mitmachen. Wenn sie daran denkt, müsste sie noch darüber lachen. Das nächste Jahr müssten wir nach Leipzig kommen. – Damit hat es ja noch gute Weile. – Erna sei einmal kurz in der Mockauer Straße gewesen, aber Papa war nicht da, und sonst mute sie alles so fremd an, sodass sie sich gar nicht lange aufgehalten habe. Zur Hochzeit würde sie hingehen, u des Friedens willen, wenn es ihr auch schwer werde. Die Wohnung ist in Leipzig C1, Nordstr.44 Hof II.
Gerade ist Vater gekommen. Er will sein Brot abholen und liest jetzt erst mal die Zeitung. Wahrscheinlich wird er sich noch die Führerrede anhören, die nachher wiederholt wird.
Mein liebster Ernst! Den ganzen Tag habe ich an Dich gedacht mit großer Sehnsucht. Immer waren meine Gedanken bei Dir. Es ist ja so einsam ohne Dich. Immer habe ich mir überlegt, wo du wohl sein magst? Morgen früh ½ 6 Uhr und ½ 7 Uhr werde ich daran denken, dass Du nun in Kowel bist. Wenn du nur eine gute Fahrt hast. Du musst ja so lange unterwegs sein.
Vielleicht hast du Gelegenheit, öfter einmal zu schlafen.
Nun, mein lieber, lieber Mann, grüße und küsse ich Dich oft und herzlich und bin immer Deine Annie.

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