Donnerstag, 19. Mai 2016

Brief 160 vom 19./20.5.1941


Mein lieber Ernst!                                                                                Konstanz, 19.5.41                                       

Einen Brief habe ich heute nicht bekommen. Ich soll eben nicht zu sehr verwöhnt werden. Der gestrige Tag ist ruhig vorbeigegangen. Eigentlich wollte ich mit den Kindern spazieren gehen, aber, nachdem es anfangs ganz schön war, fing es dann immer einmal mit regnen an. So sind wir zu hause geblieben. Ich habe meist gestopft und mir das Wunschkonzert angehört. Ich war ja schon am Samstagabend so müd´, konnte aber nicht zeitig ins Bett gehen, weil Vater da war. Gestern war ich immer noch ganz kaputt. Da Vater nicht kam, bin ich schon 3/4 9 Uhr schlafen gegangen. Heute ist es mir schon wohler, aber wenn es möglich ist, gehe ich heute auch wieder zeitig schlafen. Ich stehe dafür lieber früh zeitiger auf. Da geht mir die Arbeit leichter von der Hand.
Heute morgen habe ich wieder einmal alle Stuben eingewachst, das Sofa geklopft usw.
Wir haben doch eine Amaryllis. Ich denke wenigstens, daß sie so heißt. Die eine Zwiebel hat doch gut ausgeschlagen. Ich weiß nicht, ob Du Dich erinnern kannst, daß noch eine kleine Zwiebel da war, die ich an die Seite des Top fest gesteckt habe. Sie liegt ja nun schon über 2 Jahre drin, ohne sich zu rühren. Nun denke Dir, jetzt fängt sie an zu treiben. Ein winziges Blättchen ist schon da. Mal sehen, wie es sich weiter entwickelt. Glaubst Du, ich habe mich gefreut, daß sie nach ein paar Jahren nun doch noch mit Wachsen anfängt.
Ich weiß nicht, ob ich Dir schon geschrieben habe, daß wir jetzt auch die halbhohen und die Buschbohnen gelegt haben. Ich habe mir schon überlegt, ich hätte erst einen Teil der Stangenbohnen legen sollen, und nach ein paar Wochen den Rest. Da hätte ich nicht alle auf einmal gehabt. Aber nun läßt es sich nicht mehr ändern. Ich muß eben manches erst lernen.
Heute habe ich das erste mal eigenen Spinat geholt. Das ist eben doch etwas anderes, als wenn man ihn kauft. Er ist viel frischer und auch appetitlicher.
Aus unserem Baum herrscht reges Leben. Jetzt sitzen gerade wieder sechs Stare da. Die machen einen Krach. Wie ich gerade sehen kann, hat einer einen dicken Wurm im Schnabel. Sie sollen nur den Baum richtig ablesen. Da sind wir gar nicht böse.
Es müssen Junge im Nest sein. Die anderen Stare sind jetzt weggeflogen, aber wie der eine jetzt zum Nest geflogen kam, erhob sich darin ein Gezwitscher. So klein sie sind, machen sie doch einen tüchtigen Krach. Eigentlich haben sie doch eine schöne Wohnung, in lauter Blüten eingebettet. Aber ich glaube, ihnen werden die Würmer lieber sei als alle Blüten. Die Eltern strengen sich ja auch mächtig an, daß sie die Schreihälse satt bekommen.
Ich schicke heute drei kleine Schachteln an Dich ab. Nun mußt Du aber nicht denken, daß es ein großes Geschenk ist. Es ist nur eine kleine Kostprobe vom Muttertag. Du sollst doch auch Deinen Teil davon bekommen. Die Sterne habe ich selber gebacken und das andere Gebäck und die Pralinen habe ich von den Kindern bekommen. Aber bitte, nicht schreiben, wir hätten es selber essen sollen.
Sei nun, mein lieber Ernst, für heute wieder herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

Viele Grüße und Küsse von Deiner Helga und Jörg.


Mein lieber Ernst!                                                                   Konstanz, den 20.5.41

Du wirst Dich wundern, daß ich Dir heute mit Schreibmaschine schreibe. Ich bin aber gerade dabei und dachte, Du wirst es sicher nicht übelnehmen, wenn Du einen Schreibmaschinenbrief erhältst. Ich habe nämlich gerade den Brief an Elsa nochmals geschrieben. Meine Schwäche beim Briefeschreiben ist, daß ich fünfzig Mal „auch“ schreibe. Das war in dem Brief an Elsa der Fall und ich wollte ihn so nicht wegschicken.
Heute war ein ganz besonders schöner Tag für mich. Zwei Briefe und zwei Päckchen sind angekommen, Nr. 2 und 3. Das war aber eine Überraschung. Die schöne Pralinenschachtel für mich. Und wie lieb Du dazu geschrieben hast. Ich danke Dir ganz besonders herzlich dafür. Die Milchschokolade im anderen Päckchen hat das ganz besondere Interesse der Kinder gefunden. Eine Tafel habe ich geteilt, damit sie sich erst einmal richtig satt essen können und die andere wird aufgehoben. Von der geteilten Tafel essen sie aber auch nicht alles auf einmal, denn sonst würde es ihnen schlecht werden und soviel Verstand haben alle beide schon, daß sie sich nicht den Magen verderben.
Übrigens sind Deine beiden Briefe vom 15. und 16. 5. Ich will sie erst einmal beantworten.
Du kannst Dich darauf verlassen, daß ich mich im Haus in nichts einmischen werde, was mich nichts angeht. Ich bin froh, wenn ich nichts damit zu tun habe.
Die Behandlung des einen Mannes, von dem Du schreibst, kommt einem schon eigenartig vor. Aber ich kann mir denken, dass man nicht ohne äußerstes Muß zu solchen Maßnahmen greift. Säufer sind ja im Allgemeinen besonders verstockte Menschen.
Von Kirschen und Erdbeeren usw. sieht man bei uns ja noch nichts. Bei uns blühen sie erst. Voriges Jahr hat bei uns auch ein kleines Körbchen Erdbeeren, aber Walderdbeeren, 75 Pfg. gekostet. Es handelt sich dort auch sicher um die ersten Beeren.
Bei Hess muß es wirklich so sein, daß ihn seine Kriegsverwundung übermannt hat, denn mit klarem Verstand wäre er doch nie auf eine solche Idee gekommen. Da hätte er sich doch sicher überlegt, was er schon allein dem Führer für Schmerz bereitet. Denn der Führer hat doch schon manche Enttäuschung erlebt und darf doch nie den Kopf verlieren. Er hat doch die Verantwortung für uns alle, denn wir vertrauen doch alle auf ihn.
Deine Stenographie bereitet mir keine Schwierigkeiten. Ich bin aber wieder davon abgekommen, Stenographie zu schreiben, denn es strengt mich viel mehr an, als wenn ich richtig schreibe. Ich meine immer, Du kannst es nicht richtig lesen und gebe mir viel Mühe um ja richtig zu schreiben. Dabei fliegen mir dann alle Gedanken davon und ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich schreiben wollte.
Ich habe es Vater auch gesagt, daß es kein Wunder ist, wenn seine Hacke weggekommen ist. Wenn ich bei uns die Hacke im Garten liegen lasse, auch nur ein paar Tage, bin ich sicher, daß ich sie nicht mehr finde. Außerdem wird sie beim Draußenliegen auch nicht besser. Er will sich jetzt keine mehr kaufen, weil sie ihm zu teuer ist. Da er aber Kartoffeln anpflanzen will, bin ich gespannt, mit was er sie häufeln will. Höchstens, daß er sich unsere Hacke borgt. Ich bin ja der Meinung, daß er doch nicht die richtige Lust zum Garten hat, jedenfalls fängt er mit allem zu spät an, aber er will den Garten nicht aufgeben und ich mische mich nun nicht mehr hinein. Er muß selber wissen, was er macht. Reden ist doch umsonst.
Ich bin froh, daß Du Dich über mein Päckchen gefreut hast, auch wenn es ohne Ankündigung angekommen ist. Ich habe wieder einige Briefe geschrieben, von denen ich Dir Durchschläge mit sende. Außerdem schicke ich Dir ein Kennkartenbild von mir mit. Auf dem Umschlag steht zwar, daß man das Bild gleich mitnehmen kann. Aber so ein Bild ist das nun nicht. Für Kennkarten werden diese billigen Bilder zum gleich mitnehmen nicht gemacht, weil sie wahrscheinlich nicht lange genug halten. Außerdem schicke ich Dir eine „Photographie“ mit, die Jörg von mir gemacht hat. Wie gefalle ich Dir da? Sie ist doch wunderbar geworden. Da Kurt außer von den Kindern auch von mir ein Bild wünscht, habe ich ihm auch so ein Kennkartenphoto mitgeschickt. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen. An meine Eltern werde ich wahrscheinlich auch noch eins schicken. Ich hatte noch einmal vier Abzüge machen lassen.
Bei uns herrscht seit gestern Regenwetter. Ich benutze gleich die Ruhepause, um mich ans Stricken zu machen. Sobald schönes Wetter wird, muß ich drüben zwischen den Erdbeeren Unkraut raus machen. Durch den Regen wuchert es wie wild.
Nachdem Jörg gestern trotz meiner Warnung wieder im Vorraum gesessen ist, hatte er heute Nacht einen Huste, daß es nicht mehr schön war. Ich bin aufgestanden, habe ihm Tussamag gegeben und, nachdem es gar nicht besser werden wollte, habe ich ihn mit zu mir ins Bett genommen. Erst  habe ich ihn richtig schnauben lassen, da er auch tüchtig den Schnupfen hatte Hinterher habe ich ihn eingepackt. Meine Decke habe ich noch halb mit drüber getan. Da hat er richtig mit Schwitzen angefangen und ist dabei eingeschlafen. Heute Morgen war er ganz nass, aber der Husten ist doch besser geworden. Ich hatte ihm heute Hausarrest gegeben. Nun ist es gerade günstig, dass es regnet, da kann er sowieso nicht raus.
Heute habe ich die neuen Taschentücher von Dir versorgt. Die sind sehr schön. Die Farben  gefallen mir gut. Jetzt habe ich einen ganzen Kasten voll guter Tücher.
Ich will jetzt schließen, denn ich muß Essen kochen. Alle haben sie Hunger. Außerdem muß Helga am Nachmittag zur Schule, da wollen wir nicht gar so spät essen.
Am Nachmittag hole ich die Bilder, die ich an Kurt schicken will. Für Nanni habe ich auch Abzüge machen lassen. Ich schicke sie Dir mit. Sollte es zu spät sein, wenn ich die Bilder erhalte, schicke ich sie Dir morgen mit. Ich habe sie in bräunlichem Ton machen lassen. Sollten sie Dir doch besser gefallen, kannst Du ja Deine Bilder, die Du dort hast, umtauschen. Sei nun für heute herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.
Helga schreibt in den nächsten Tagen einen Brief an Dich.
Vorhin erhielt ich noch einen Brief von den Eltern, den ich nun gleich mit beantwortet habe. Ich habe ihnen auch mit geschrieben, wo Du bist. Ich habe es unter den Brief geschrieben, auf dem Durchschlag an Dich steht es also nicht mit darauf.
Ich weiß nicht, ob Du von dem Brief, den meine Mutter an mich geschrieben hat, auch einen Durchschlag erhalten hast. Wenn nicht, so möchte ich Dir hier noch schreiben, was sie von Erika Lepper geschrieben hat. Ihr Mann war als Oberleutnant an der Front. Er war in Mannheim in einem Werk beschäftigt als Ingenieur. Er wurde vom Werk reklamiert und kam zurück. Er war kaum fünf Tage da, da kamen feindliche Flieger nach dort. Eben im Begriff, nach dem Luftschutzkeller zu gehen, erwischt ihn eine Sprengbombe und zerreißt ihn. Die Erika war noch bei ihrer Mutter in Unteruhldingen. Sie haben auch zwei Kinder, einen Bub und ein Mädel. Ist das nicht schrecklich? Gerade in der Heimat denkt man doch weniger daran, daß etwas passiert. Wie Mama schreibt, arbeitet Alice in dem Geschäft, wo Mama früher war, schon seit einem Jahr. Eigentlich sollte Mama kommen, aber es ging nicht mehr.
Die Butter, die ich Mama geschickt habe, ist übrigens gerade am Muttertag in gutem Zustand angekommen. Das  freut mich.
Es ist jetzt 4 Uhr.  Sonst würde ich jetzt wegfahren, aber heute muß ich noch ein bißchen warten, weil ich vor 1/2 6 Uhr kaum die Bilder bekommen werde, die ich doch mitschicken will. Bis dahin werde ich noch ein wenig stricken. Sei nun nochmals herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.
Von Deinen Geschenken zum Muttertag an mich habe ich mit Absicht nichts an meine Eltern geschrieben.

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