Donnerstag, 19. Mai 2016

Brief 158 vom 16.5.1941


Mein lieber Ernst!                                                                           Konstanz, 16.5.41                                                    

Heute bin ich dafür entschädigt worden, daß ich gestern keinen Brief erhielt. Gleich  2 habe ich bekommen, vom 10. und 12.5. und so lang sind sie, daß es direkt eine Freude ist, sie nur anzusehen. Jetzt will ich sie erst einmal der Reihe nach beantworten.
Für Deine Schilderung von den Leuten dort danke ich Dir sehr. Das interessiert mich immer. Daran, daß sich jetzt mehr melden, um bei uns zu arbeiten, sieht man schon, wie gut sie es hier haben. Ich glaube auch nicht, daß jemand klagen kann bei uns. Bei uns haben es ja sogar die Gefangene gut. Wenn man sie sieht, dann sind sie froh. Jetzt haben sie einmal beim Schauinsland Kohlen ausgeladen. Als wir vorbeikamen, waren sie gerade fertig. Da fuhr der eine noch auf dem kleinen Kinderkarussell im Hof und die anderen standen friedlich mit der Wachmannschaft vor dem Tor und haben gewartet, bis er kam. Dabei war ein Lachen und Geschnattere. Hinterher sind sie dann einträchtig in ihre Unterkunft gepilgert.
Dieses Mal ist also das Päckchen eher angekommen wie der Brief, wie ich Dir schon schrieb. Es ist doch das Päckchen Nr. 1. Angekommen ist es gut, nur auf der einen Seite war das Papier aufgerissen.
Mit der Schokolade hast Du wirklich einen großen Einkauf getätigt. Ich danke Dir recht sehr dafür. Du kannst versichert sein, daß auch die Kinder Schokolade mit Verstand esse. Ich werde sie auch entsprechend einteilen.
Am Garten habe ich wirklich meine Freude. Es macht einfach Spaß, wenn man seine Mühe belohnt sieht, wenn alles so gut wächst. Ich werde mir auch wirklich Mühe geben, daß ich alles in Ordnung halte. Heute Nacht hat es geregnet. Aber jetzt heitert es sich schon wieder ein wenig auf. So ist es ja recht. Auf dem Markt werden schon Tomatenpflanzen angeboten. Ich werde wahrscheinlich bald welche kaufen.
Bei uns war das Wetter auch schön die letzte Zeit. Aber nachts ist es auch immer kalt gewesen. Früh kann man immer noch den Mantel vertragen. Aber das wird sich ja sicher bald ändern.
Es ist schade, daß Euer Kriegsverwaltungsrat von dort fortkommt. Es hätte nichts geschadet, wenn er noch nach Konstanz hätte schreiben können, damit sie auch hier sehen, daß auch andere mit Deiner Arbeit zufrieden sind. Die Antwort der Stadt habe ich Dir ja zugeschickt. Ich weiß ja nicht, ob Du damit zufrieden bist. Wegen der Gehaltserhöhung vertrösten sie Dich bis nach dem Kriege. Es ist ja aber nicht nur wegen dem Geld allein, es ist auch wegen einer Anerkennung, die durch eine Beförderung zum Ausdruck gekommen wäre. Aber die ändern die Konstanzer nicht.
Du mußt dort erst in den Stadtgarten gehen, wenn Du die Vögel singen hören willst. Wir haben es ja da noch viel schöner. Uns sitzen die Vögel vor dem Fenster. An unserem Star habe ich immer wieder meine Freude, wenn er aus voller Kehle singt und dabei mit den Flügeln schlägt. Ich sehe es doch oft, aber immer wieder muß ich lachen, wie er sich anstrengt. Es ist ein friedliches Bild, wenn der Star in dem blühenden Baum sitzt. Ich glaube, daß sie wieder Junge haben, denn sie fliegen ein und aus.
Ich freue mich, daß es mit Deinen Wirtsleuten doch nicht so schlimm ist, wie es erst ausgesehen hat. Das ist ja auch kein gutes Wohnen gewesen, wenn man sich dauernd ärgern muß. Die Leute werden wahrscheinlich auch merken, daß Du immer anständig auftrittst und keine unberechtigten Forderungen stellst. Vielleicht macht es auch etwas aus, daß die Kinder Dich gern mögen. Kinder merken eben doch auch, wer es gut mit ihnen meint. Noch schöner wäre es natürlich, wenn ich Dich bei unseren Kindern haben könnte, aber es geht jetzt eben nicht zu ändern. Das ist der Krieg. Es ist ja ganz anständig, wenn sie Dir so ohne weiteres den Schlafanzug waschen. So hast du jetzt doch wenigstens in dieser Beziehung keinen Ärger. Es ist auch schön, daß die Kameraden versuchen, Dich in ihren Kreis zu ziehen. Kameradschaft ist in einem fremden Land doch notwendig, damit man sich nicht so einsam vorkommt. Bis  jetzt brauchst Du also die Post nicht schreiben. Das freut mich, daß ihr das durchsetzen konntet. Was sind das dort eigentlich für Fräuleins? Elsässer wie in Deinem früheren Ort oder Deutsche?
Heute morgen war ich in der Stadt wegen Vaters  Garten. Es ist mir gesagt worden, daß sich viele um den Garten bewerben, vor allen Dingen Leute mit Kindern, die sich darüber beschwert haben, daß ein einzelner Mann einen Garten hat und sie keinen bekommen. Und daß Dein Vater den Garten gar nicht ausnutzt, wenn er ihn bis zum Mai hinein brachliegen läßt. Ich soll doch Deinem Vater  bestellen, daß es ihnen sehr lieb  wäre, wenn er ihnen den Garten im Herbst überläßt. Ich habe ihnen natürlich erklärt, daß er nicht immer Zeit hat. Außerdem würde er im Herbst 65 Jahre und es wäre doch gut, wenn er dann, wenn er vielleicht nicht mehr schafft, so eine Nebenbeschäftigung hat. In dieser Beziehung hat sie mir wieder recht gegeben. Ich werde jetzt mit Vater sprechen. Ich finde ja, daß es vielleicht besser wäre, er gäbe ihn auf. Denn die richtige Lust hat er doch nicht und bis er ihn immer bepflanzt  ist schon der halbe Sommer vorbei. Das weißt Du ja selbst.
Heute Nachmittag gehen wir nun Jörg zur Schule anmelden. Das ist ein wichtiger Schritt. Hoffentlich lernt er später auch so gut wie Helga. Da könnten wir ja zufrieden sein.
Du wirst Dich vielleicht in den letzten Tagen gewundert haben, daß meine Briefe ziemlich kurz waren. Das darfst Du mir nicht übelnehmen. Weißt Du, ich habe mich in den letzten Tagen wieder ziemlich ärgern müssen mit den Kindern aus der Nachbarschaft und auch Frau Bautz ist mir so dumm gekommen. Du weißt ja, wie ich mich da immer aufrege, wenn ich auch nicht viel sage, aber innerlich rege ich mich schrecklich auf. Mein Kopf war ganz dumm. Ich konnte gar nicht richtig denken. Jetzt ist alles wieder recht und der Ärger ist auch vorbei. Es kann eben nicht immer eitel Sonnenschein sein.
Mein lieber Ernst! Immer wenn ich Deine lieben Briefe lese, ist es mir, als ob Du gerade mit mir redest und da habe ich immer große Sehnsucht nach Dir. Es war doch schön, als Du noch bei uns warst. Du weißt es ja dort auch, wie es ist, wenn man sich mit Niemandem aussprechen kann. Und nicht nur das Aussprechen ist es, was einem so fehlt, sondern auch das miteinander Schaffen und Leben und Sehen. Es war immer schon so schön, wenn ich gewußt habe, jetzt kommst Du bald aus dem Geschäft oder wenn ich mich darauf freuen konnte, daß wir sonntags zusammen mit dem Rad fortfahren wollten. Hoffentlich wird später alles wieder so schön. Wir wollen es fest hoffen. Schön ist es ja jetzt schon, daß ich so einen lieben Mann habe, der so liebe Briefe schreibt, nicht wahr, mein lieber Kerl? Mußt mich aber nicht auslachen, wenn ich Dir so alles schreibe.
Nun will ich schließen. Ich muß noch das Essen fertig machen, damit wir später fortgehen können. Sei Du, mein lieber Ernst, recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner immer an Dich denkenden Annie.


 Mein lieber Ernst!                                                      Konstanz  16.5.41 abends

 Heute schreibe ich Dir am Abend noch, denn ich möchte den Brief morgen Vormittag gleich mit in die Stadt nehmen. Da brauche ich nachmittags nicht noch einmal fahren.
Wie ich Dir schon schrieb, haben wir heute Nachmittag Jörg zur Schule angemeldet. Zu Mittag kam Helga und sagte mir, Frau Bolz hätte gefragt, ob ich ihr nicht klingeln wollte, wenn ich fortgehe. Sie muß den Hermann anmelden. Das habe ich dann auch getan und wir sind zusammen gegangen.
Jörg spielt jetzt immer mit dem Buben und Helga paßt öfter auf die zwei Mädels auf. Ich habe mich direkt gewundert, wie gut Helga mit so kleinen Kindern umgehen kann.
Nach dem Anmelden mußte ich noch  in die Stadt, Helga und Jörg hätten aber gern mit den Kindern gespielt und so sind sie mit heimgegangen, nachdem sich Helga hundertmal versichert hatte, daß ich es bestimmt nicht übel nehme. Ich bin dann allein in die Stadt gegangen. Ich muß schon sagen, daß es mir ganz eigenartig vorgekommen ist. Fahren tue ich ja öfter in die Stadt, aber daß ich allein laufe, kommt doch fast gar nicht vor. Lustig war es heute anzusehen, wie an vielen Schaufenstern Kinder standen und nachsahen, ob ihr Geldbeutel für dies oder jenes Geschenk ausreicht. Überall hat man sie auch mit kleinen Päckchen gesehen. Unsere Kinder sind wegen dem Muttertag ja auch schon ganz aufgeregt. Jörg sagte heute schon wir sollten ihn am liebsten schon morgen feiern. Immer wird mir auch versichert, daß ich mich ganz bestimmt fest freuen werde, denn es sei so etwas Schönes, was sie gekauft hätten. Mir macht schon ihre Freude selbst Freude. Ich habe mir heute die Kennkarten-Bilder geholt. Die Aufnahme ist gar nicht so schlecht. Sollte ich für die Karte nur 3 Bilder brauche, schicke ich Dir eine mit. Ich wollte heute gleich die Karte beantragen, aber das Büro war schon zu. Ich gehe morgen gleich noch Mal mit vorbei, damit ich das hinter mir habe.
Als ich heimkam, habe ich gleich noch Bohnen rein getan, das heißt, ich habe die Löcher gemacht und Helga hat die Bohnen gelegt. Sie hat sich ganz gut dabei angestellt. Eigentlich müssen die Bohnen jetzt, nachdem sich unser kleiner Kerl so dabei angestrengt hat, noch einmal so gut wachsen. Das hoffe ich denn auch. Das waren heute die Stangenbohnen, morgen kommen die halbhohen dran. Die Buschbohnen sind, nach unserem Buche jedenfalls, noch nicht so eilig. Oder soll ich sie auch reinmachen? Auch die Gurken will ich bald fertig machen Muß ich die abends immer noch zudecken, solange es kühl ist, oder sind sie nicht so empfindlich? Nachdem wir Abendbrot gegessen hatten, habe ich mich noch an verschiedene Schuhe gemacht. Sie hatten alle kleine Defekte.  Nachdem es jetzt so lange hell ist, lasse ich die Kinder immer bis 3/4 8 rausgehen. Bis sie sich ausgezogen haben, ist es immer so 1/2 - 3/4 9 Uhr. Ist das zu spät oder macht es nichts? So ganz klein sind sie ja nicht mehr.
Es wurde wieder einmal Zeit, daß bei Jörg die Haare geschnitten werden. Er hat es immer wieder hinausgezögert, bis ich ihm heute sagte, mit so wilden Haaren darfst Du nicht in die Schule zur Anmeldung kommen. Das hat er eingesehen und so habe ich ihn wieder fein gemacht. Jetzt fühlt er sich viel wohler, wie jedes Mal nach dem Haareschneiden, aber bis zum nächsten Mal hat er`s vergessen und dann geht das Theater von neuem los. Das ist doch ein kleiner dummer Kerl.
Heute beim anmelden mußten wir in das Klassenzimmer von Helga. Da hättest du sie sehen sollen, wie stolz sie war. Alles hat sie Jörg gezeigt, wo sie sitzt, wo der „Fundplatz“ ist usw. Auf den Fundplatz kommen alle Sachen, die von  Kindern vergessen wurden. Diesen Platz hat sie bereichert, indem sie alle Bänke nachgesehen hat nach vergessenen Sachen. Sie hat tatsächlich verschiedenes entdeckt. Sogar Tafeln. Richtig stolz war Helga auf ihr Klassenzimmer, immer hat sie wieder gesagt: „Gell, ich weiß, wo alles ist.“ Richtig ein bißchen lausbubenhaft ist sie geworden. Du weißt ja, wie sie da sind. Sie ist auf ihren Platz gegangen, hat sich hingeflegelt und hat dann allen so zu verstehen gegeben, daß das ihr Zimmer ist. Also weißt Du, frech war sie nicht, nur richtig übermütig und ich muß sagen, ich habe meine Freude an ihr gehabt. Das hat mich auch so an die eigene Schulzeit erinnert. Ich habe richtig über sie lachen müssen, ich glaube, wir waren sicher auch einmal so.
Es ist nun inzwischen spät geworden, 1/4 12 Uhr, und ich will schlafen gehen. Schlaf auch Du gut, mein liebster  Mann, und wach ganz gesund wieder auf.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen