Mein lieber Ernst! Konstanz, 11.5.41
Heute ist ein verregneter Sonntag und wir
bleiben zu hause. Ich höre mir wieder das Wunschkonzert an. Vielleicht tust Du
dasselbe. Gestern Nachmittag sind wir in den Wald gegangen zum Teesuchen. Wir
haben aber nicht viel gefunden. Nur etwas Spitzwegerich. Die Taubnesseln, wegen
denen wir eigentlich hinausgegangen sind, blühen noch nicht. Vielleicht in 8 -
14 Tagen. Auf dem Rückweg haben wir Frau Bolz getroffen. Sie heißt jetzt nicht
mehr Fräulein Henne. Helga hat natürlich gleich den Kinderwagen geschoben. Der
Hermann hat von dem Autounfall eine leichte Gehirnerschütterung. Das ist noch
einmal gut abgegangen. Ich bin so froh, daß Jörg nichts passiert ist. Am
nächsten Freitagnachmittag muß ich übrigens Jörg zur Schule anmelden. Es dauert
ja nur noch 3 Monate, dann beginnt auch für ihn die Schule.
Ich glaube, unser Rhabarber will dieses
Jahr einen Rekord im Wachsen aufstellen. So viel und so großen haben wir noch
nie gehabt. Ich habe gestern welchen geholt. Es waren 9 Pfund. Man sieht an den
Pflanzen aber gar nicht, daß überhaupt welcher weg ist. Um Dir ein Bild zu
geben von der Größe und Stärke habe ich ein paar gemessen. Im Durchschnitt sind
die Stangen 10 - 12 cm im Umfang dick und ohne Blätter 45 - 55 cm lang. Es sind
Riesenstangen. Aus den 5 Rhabarberstöcken sind aber auch dieses Jahr 12 geworden.
Nächstes Jahr müssen wir ein paar Stöcke auseinandersetzen. Wir haben heute
davon Rhabarberkuchen und Kompott.
Inzwischen ist es Nachmittag geworden. Es hat sich doch noch etwas
aufgeklärt und die Kinder drängen schon die ganze Zeit, daß sie den Brief
fortschaffen dürfen, natürlich mit dem Omnibus. Das ist doch ihre ganze
Sehnsucht. Diesen Wunsch will ich ihnen auch erfüllen. Ich habe sowieso keine Lust fortzugehen. Ich ruhe mich lieber
ein bißchen aus. Vielleicht stricke ich noch ein bißchen, denn mit meiner Jacke
komme ich gar nicht vorwärts. Das ist aber keine Faulheit, sondern ich habe bis
jetzt immer etwas anderes zutun gehabt und abends bin ich meist müde.
In unserem Haus ist auch wieder ein
interessanter Fall vorgekommen. Der Schlüssel von Büsings Wohnung schließt doch
bei Leimenstolls. Nun ist gestern der Frau Leimenstoll aus ihrer Tasche, die
sie im Korridor hängen hat, ein Brief weggekommen während sie fort war. Sie
kann natürlich niemand beschuldigen, da sie es nicht gesehen hat, wer ihn
genommen hat. Ein Schlüssel ist ihr auch weggekommen. Frau Leimenstoll will nun
morgen zu Herrn Ganal gehen und verlangen, daß bei ihr ein anderes Schloß an
die Tür gemacht wird. Ich könnte Dir ja noch manche schönen Sachen erzählen,
aber ich glaube, daß Dich solch blöder Haustratsch wenig interessieren wird.
Wichtiger wird Dir sein, wenn ich Dir
sage, daß bei unserem Baum schon die ersten Blüten auf gehen. Gerade von
unserem Fenster aus sieht man es wunderschön. Blüten hat es dieses Jahr
ziemlich viel.
Wenn Du diesen Brief erhältst, bist du nun
ein ganzes Jahr bei den Soldaten. Heute vor einem Jahr haben wir schon den
Bescheid erhalten, daß Du einrücken mußt. Weißt Du noch, wie der Bote uns aus
dem Bett geholt hat, als er nachts ankam?
Jetzt sitzen schon die ganze Zeit die
Kinder neben mir und warten nur auf den Augenblick, wo ich zu schreiben
aufhöre. Sie können es gar nicht erwarten, fort zufahren. Viel weiß ich auch
heute nicht mehr zu schreiben. Du nimmst mir das aber nicht übel.
Sei nun für heute recht herzlich gegrüßt
und geküßt von Deiner Annie.
Viele
Grüße und Küsse von Deiner Helga und Jörg.
Mein lieber Ernst! Konstanz, 11.5. abends
Der Sonntag ist wieder vorbei. Man weiß
gar nicht recht, ob man sich auf die Sonntage freuen soll. Erst meint man, das
ist einmal ein richtiger Ruhetag. Dann ist es aber so, daß es doch recht einsam
ist, wenn Du nicht da bist. Die richtige Ruhe zum faulenzen habe ich dann auch
wieder nicht. Na morgen fängt eine neue Arbeitswoche an. Am schönsten ist immer
das schlafen. Da kann ich mich richtig ausruhen und träume noch von Dir. Darauf
freue ich mich immer schon im Voraus.
Am Nachmittag haben die Kinder den Brief
an Dich mit dem Omnibus fortgebracht. Das war eine richtige Freude für sie. Als
sie wiederkamen, haben wir Abendbrot gegessen und hinterher noch Mensch ärgere
Dich nicht gespielt. Auf Helga`s Wunsch haben wir das Spiel genommen, welches
Ihr selber gemacht habt. Helga sagte: Da haben wir wenigstens etwas vom
Vaterle.
Heute habe ich im Radio gehört, daß ein
deutsches Theater in Lille eröffnet worden ist,. Wenn Du noch dort wärst,
würdest Du sicher öfter hingehen. An so etwas hast Du doch immer Deine Freude.
Nachdem Du ein paar Bücher gekauft hast,
und sie mir später schicken willst, habe ich heute den Bücherschrank und die
Regale neu eingeräumt. Die Schulungsbriefe und die Bodenseebücher habe ich raus
getan. Sonst brächte ich kein Buch mehr unter. Nun ist wieder für mehrere
Platz. Die Schulungsbriefe usw. habe ich in das Regal im Schlafzimmer getan.
Die Gasmasken haben ihren Platz räumen müssen. Die bringe ich eher unter, denn
die verstauben doch nicht so wie Bücher.
Trotzdem ich heute nicht viel getan habe,
bin ich doch wieder müde, Ich höre mir nur noch die Nachrichten an und dann
gehe ich schlafen. In der vergangenen Nacht habe ich zuerst geträumt, daß ich
mit den Kindern zu Dir fahren wollte. Sie haben mich aber wieder aus dem Zug
geschmissen. Da war ich froh, als ich aufwachte. Hinterher bin ich aber
entschädigt worden, indem ich dann richtig von Dir geträumt habe. Ach Ernst,
ich habe doch immer rechte Sehnsucht nach Dir. Ein Trost ist, daß ich immer so
regelmäßig von Dir Post erhalte. Dadurch werde ich wieder ein bißchen froh.
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