Sonntag, 2. Juni 2019

Brief 740 vom 23.05.1944


Lieber, lieber Ernst !                                                            Konstanz, 23.5.44

Gestern konnte ich Dir von den wichtigsten Ereignissen berichten, heute will ich Dir vom Muttertag erzählen. Am Morgen war ich um 5 einmal munter geworden, aber dann bin ich wieder fest eingeschlafen. Auf einmal klopft es an die Tür und Helga und Jörg kamen herein. Sie hatten einen kleinen Strauß Schlüsselblumen mit ein paar Stiefmütterchen in der Hand. Sie beglückwünschten  mich zum Muttertag und dann durfte ich aufstehen. Als ich in die Küche kam, hatte sie schon den Tisch gedeckt.
Ich wurde dann zum Geschenktisch geführt. Da standen 1 Fliederstrauß und 2 Margeritensträuße, daneben standen 3 Glasschüsselchen und 1 Bilderrahmen, den Jörg aus seinem kleinen Metallbaukasten gebastelt hatte. Da steht Dein Bild jetzt drin. Dann lagen noch 2 Broschen da. 2 Briefbogen mit Glückwünschen lagen auch da. Die Hauptsache hätte ich bald noch vergessen. Helga hat mir ein sehr nettes Nadelkissen zum aufhängen gearbeitet, welches ich sehr gut brauchen kann. So haben Beide also nicht nur etwas gekauft, sondern auch gearbeitet. Nach dem Frühstück brachte mir die Briefträgerin einen Brief von Dir. Das war eine große Freude für mich. Eigentlich wollten wir fortfahren, aber es regnete den ganzen Tag, so daß man am besten daheim bleibt. Helga hatte Ingrid eingeladen und sie haben schön zusammen gespielt. Sie haben sich verkleidet als alte Frauen usw. Es war lustig. Jörg war mit Walter Leimenstoll auf dem Trockenspeicher.
Da haben sie mit der Eisenbahn und den Soldaten gespielt. Ich habe Radio gehört und dabei Strümpfe gestopft. So ist der Tag vorbei gegangen. Am Abend kam noch Resi und erkundigte sich nach unserer Reise.  Von unserer Reise heimwärts brauche ich Dir ja nicht viel zu berichten, denn davon liest Du ja im beiliegenden Durchschlag.
Aber als wir hier ankamen, da kam uns Konstanz so still vor. Das Ohr hatte sich schon an das Straßenbahngebimmel und Gekreisch und an die Eisenbahn gewöhnt. Beim Auspacken daheim haben wir uns auch nicht gerade wohl gefühlt. Es war alles so still und leer und dann die Unordnung durch das ausgepackte Zeug.  Inzwischen hat sich alles wieder eingerichtet. Vom Garten habe ich Dir ja gestern erzählt.  Vater meinte, als er das letzte Mal hier war und wir auf die Reise zu sprechen kamen:
„ich will‘s offen sagen, als notwendig habe ich die Reise nicht gerade angesehen, nachdem Ihr euch erst gesehen hattet. Das kostet doch eine ganze Menge Geld.“ Als ich ihm sagte, daß das in diesem Fall gar nichts ausmache, konnte er das nicht verstehen. Gel, wir bereuen es nicht, daß wir in Leipzig waren? Es war voriges Mal in München so schön und diesmal haben wir auch schöne Tage verlebt. Das Geld allein nützt uns auch nichts. Sonst sehe ich auch zu, daß ich alles zusammenhalte, aber in solch einem Fall kann ich es ohne Reue ausgeben.  Für Dein Briefmarkenalbum habe ich jetzt eine Tasche genäht, damit ich es mit in den Keller nehmen kann. Die Tasche hat oben Reißverschluß, da kann das Album auch nicht verstauben.  Zum schreiben der Aufstellung von den fehlenden Briefmarken bin ich leider noch nicht gekommen.  Ich tue es aber bald.  Jörg will zu Pfingsten auf Fahrt gehen. Da waren wir wegen einem Affen bei Vater. Da haben wir nun einen ganz guten gefunden, der aber noch zu schade ist. Den haben wir für Jörg als Luftschutzhandgepäck hergerichtet. Dann war ein nicht ganz so guter da ohne  Fell). Da fehlten unten die Haken und oben die Riemen. Da hat Vater einen alten Rucksack dazu gegeben. Von dem habe ich Riemen und Haken abgetrennt und nun an den Affen genäht. D.h. ganz fertig bin ich noch nicht. Nachher werd‘s noch fertiggemacht. Die Schuhe habe ich auch alle mal soweit wieder hergerichtet.
Gestern, als wir die Sandalen kaufen wollten, haben wir diese nicht bekommen, dafür aber bezugsscheinfreie Strohpantoffeln für‘s Haus. Da will ich heute ein Paar feste Stoffsohlen drunter nähen, damit die Schuhe auch eine Weile halten.  Von Deinem getrockneten Brot haben wir jetzt schon einige Mal süße Brotsuppe gemacht. Die schmeckt wirklich sehr gut und man braucht nicht zu viele Zutaten dazu. So können wir das Brot immer wieder verwenden.  Nun bist Du schon wieder über eine Woche bei Deiner neuen Einheit. Die Umstellung wird ja sicher immer noch schwer sei, denn die Anforderungen sind doch ganz andere als vorher. Fritz Bautz meinte einmal in einem Urlaub, die ersten 6 Wochen wären sehr schlimm, dann gewöhnte man sich dran.  Ich weiß ja nicht, ob es so ist. Daß Du Dich durchsetzen wirst, das glaube ich sicher. Aber die erste Zeit ist es eben doch hart. Leider kann ich ja immer nur in Gedanken bei Dir sein und kann Dir nichts abnehmen oder es Dir leichter machen. Du weißt ja, wie gern ich es tun würde.  Nun schließe ich diesen Brief wieder mit recht herzlichen Grüßen und Küssen an Dich, mein lieber Ernst. Deine Annie.

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