Mittwoch, 24. Mai 2017

Brief 332 vom 23.5.1942


Mein liebster Ernst!                                                   Konstanz, 23.5.42

Sehr spät fange ich heute zu schreiben an. Es ist bereits 10 Uhr durch. Aber schreiben muss ich noch, denn wir haben heute allerlei erlebt. Ganz verschwenderisch sind wir gewesen, so, wie lange nicht. Wir haben schon vorher Pfingsten gefeiert. Erst waren wir im Film „Zwei in einer großen Stadt“. Es war ein harmloser, lustiger Film, der uns gut gefallen hat. Auf dem Heimweg sind wir noch in ein Cafe gegangen, zum ersten Mal ohne dich, und haben ein Stück Torte und ein Eis gegessen. Bist Du da nicht erstaunt? Ich denke aber, du wirst uns nicht böse deshalb sein, denn wir werden über die Feiertage ja nichts mehr verbrauchen. Die Kinder waren ganz begeistert, dass wir einmal eingekehrt sind. Gleich kommt es ja nicht mehr vor.
Eine Unterlassungssünde muss ich dir noch beichten. Ich habe dir auch zum Pfingstfest keine Grüße gesandt. Beim Osterfest hast du mir ja noch verziehen, ob du es aber jetzt auch tust? Verlangen kann ich es eigentlich nicht, denn ich kann gar nicht versprechen, dass es nicht wieder geschieht. Ich vergesse jetzt alle Feiertage, erst wenn sie da sind, denke ich daran. Das kommt auch daher, weil ich mich nicht darauf freue. Da kann man nicht so schaffen, wie sonst, und da habe ich doppelt und dreifach Sehnsucht nach dir.
Heute Abend ist Vater hier. Er brachte uns ein halbes Pfund Pralinen mit, die wir uns teilen sollten. Jetzt liest er gerade die Zeitung von heute, die ich dir mitschicken will. Vielleicht interessiert sie dich ein wenig.
Heute schickte mir Papa den Durchschlag des Briefes an Dich. Da war ja für mich sehr interessant, zu lesen, dass es der Vater von Alice war, der im vergangenen Jahr an Mama geschrieben hat. Zwischen Papa und Alice kommt es also auch zum Bruch. Ich kann Alice einesteils verstehen, wenn sie Papa die Adresse nicht geben will. Denn wer weiß, was er evtl. schreiben würde, und sie ist vielleicht froh, mit ihm in Briefwechsel gekommen zu sein. Ich habe die Adresse des Mannes ja noch. Aber daran denkt Papa sicher nicht.
Heute früh brachte mir Jörg einen großen Wiesenstrauß. Ich habe ihn teilen und in zwei Vasen tun müssen. Wir haben jetzt alles voll Blumen stehen, aber besonders Jörg ist ja ein großer Freund davon. Er hat schon gesagt, wenn er mal groß ist, pflanzt er sich viele Blumen an.
Nun laß mich schließen. Vater nimmt den Brief gleich noch mit. Er geht dann sicher bald heim, denn es ist bereits ¾ 12 Uhr.
Nimm recht viele Grüße und herzliche Küsse von Deiner Annie.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen