Mein liebster Ernst! Konstanz, 23.5.42
Sehr spät fange ich heute zu schreiben an. Es ist bereits 10
Uhr durch. Aber schreiben muss ich noch, denn wir haben heute allerlei erlebt.
Ganz verschwenderisch sind wir gewesen, so, wie lange nicht. Wir haben schon
vorher Pfingsten gefeiert. Erst waren wir im Film „Zwei in einer großen Stadt“.
Es war ein harmloser, lustiger Film, der uns gut gefallen hat. Auf dem Heimweg
sind wir noch in ein Cafe gegangen, zum ersten Mal ohne dich, und haben ein Stück
Torte und ein Eis gegessen. Bist Du da nicht erstaunt? Ich denke aber, du wirst
uns nicht böse deshalb sein, denn wir werden über die Feiertage ja nichts mehr
verbrauchen. Die Kinder waren ganz begeistert, dass wir einmal eingekehrt sind.
Gleich kommt es ja nicht mehr vor.
Eine Unterlassungssünde muss ich dir noch beichten. Ich habe
dir auch zum Pfingstfest keine Grüße gesandt. Beim Osterfest hast du mir ja
noch verziehen, ob du es aber jetzt auch tust? Verlangen kann ich es eigentlich
nicht, denn ich kann gar nicht versprechen, dass es nicht wieder geschieht. Ich
vergesse jetzt alle Feiertage, erst wenn sie da sind, denke ich daran. Das
kommt auch daher, weil ich mich nicht darauf freue. Da kann man nicht so
schaffen, wie sonst, und da habe ich doppelt und dreifach Sehnsucht nach dir.
Heute Abend ist Vater hier. Er brachte uns ein halbes Pfund
Pralinen mit, die wir uns teilen sollten. Jetzt liest er gerade die Zeitung von
heute, die ich dir mitschicken will. Vielleicht interessiert sie dich ein
wenig.
Heute schickte mir Papa den Durchschlag des Briefes an Dich.
Da war ja für mich sehr interessant, zu lesen, dass es der Vater von Alice war,
der im vergangenen Jahr an Mama geschrieben hat. Zwischen Papa und Alice kommt
es also auch zum Bruch. Ich kann Alice einesteils verstehen, wenn sie Papa die
Adresse nicht geben will. Denn wer weiß, was er evtl. schreiben würde, und sie
ist vielleicht froh, mit ihm in Briefwechsel gekommen zu sein. Ich habe die
Adresse des Mannes ja noch. Aber daran denkt Papa sicher nicht.
Heute früh brachte mir Jörg einen großen Wiesenstrauß. Ich
habe ihn teilen und in zwei Vasen tun müssen. Wir haben jetzt alles voll Blumen
stehen, aber besonders Jörg ist ja ein großer Freund davon. Er hat schon
gesagt, wenn er mal groß ist, pflanzt er sich viele Blumen an.
Nun laß mich schließen. Vater nimmt den Brief gleich noch
mit. Er geht dann sicher bald heim, denn es ist bereits ¾ 12 Uhr.
Nimm recht viele Grüße und herzliche Küsse von Deiner Annie.
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