Montag, 15. Mai 2017

Brief 322 vom 12.5.1942


Mein liebster Ernst!                                                   Konstanz, 12.5.42

Gestern habe ich keinen Brief geschrieben, nur 4 kleine 100g-Päckchen an dich abgeschickt. Mit war der Kopf so benommen, dass ich gar nicht wusste, was ich schreiben sollte. Heute erhielt ich deinen lieben Brief vom 27. Nun bist du also an deinem Bestimmungsort angekommen. Wie ich aus manchen Sätzen des Briefes ersehe, hast du scheinbar auch am Tag zuvor geschrieben. Dieser Brief muss noch unterwegs sein.
Die Karte an Kurt schicke ich heute weiter. Sie geht noch an seine alte Adresse.
Den Ort, wo du bist, habe ich auch stenografiert lesen können. Ich habe ihn auf meiner Karte rot angestrichen.
Wieso brauchst du dort ein Kochgeschirr, Feldflasche usw. und eine Decke? Vielleicht steht das in deinem vorhergehenden Brief. In Frankreich brauchtest du das alles doch nicht? Wenn das Essen so bleibt, wie du es in deinem Brief beschreibst, wäre es ja ganz gut, nicht wahr? Hoffentlich ist dein Schnupfen wieder vorbei und du bist ganz gesund.
Bei uns vergeht ein Tag wie der andere. Augenblicklich habe ich viel zu nähen und zu stopfen. Gestern habe ich wieder einmal den Keller und Speicher aufgeräumt. Das ist auch immer mal nötig, damit alles in Ordnung bleibt. Dann müssen zwischendurch wieder Schuhe ausgebessert werden und so ist immer zu tun. Im garten werde ich in den nächsten Tagen Bohnen und Gurken stupfen und zusehen, dass ich Tomatenstöcke bekomme. So 12 -15 Stück würde ich nehmen, wenn ich sie bekommen kann. Die Sämlinge von den verschiedenen Gemüsen machen sich gut heraus, vom S0pinat kann ich in den nächsten Tagen holen, Möhren und Erbsen wachsen auch gut. Die Erdbeeren fangen zu blühen an. Vom Apfelbaum schrieb ich dir ja schon. Er blüht an allen Seiten gleichmäßig schön. Es ist eine Freude, ihn anzusehen. Nachdem ich den Zwiebelsamen von dir bekommen habe, habe ich davon ausgesät, damit ich im nächsten Frühjahr Steckzwiebeln habe. Ich bin sehr froh darum.
Helga und Jörg sind beide gesund und munter. Jörg „verkitscht“ augenblicklich mal alles. Gute Sachen, die wir ihm geschenkt haben, darf er ja nicht weg geben. Aber er hat ja noch andere Sachen. Für Zigarettenbilder hat er ein Modellbogen-Haus getauscht, das hat er jetzt wieder für eine Mühle weggegeben. Für einen Granateneinschlag hat er jetzt einen Unterstand bekommen, für einen englischen Soldaten vom Papa einen Cowboy. Ich achte nur immer darauf, dass sie ihn nicht über´s Ohr hauen. Im Allgemeinen bin ich ja wenig für das tauschen.
Auf der Wiese vorm Haus hat sich Jörg mit den anderen Buben vom Haus kleine Unterstände für die Soldaten gebaut. Gekämpft wird auch. Da schmeißen sie mit Steinen. Dabei ist auch das kleine MG, das er von Siegfried hatte, hin gegangen. Auf der Gegenseite ist ein Reiter vom Richard zerschossen worden. Da Jörg ja unsere Soldaten mit nur einem Arm oder Bein hat, braucht er unbedingt eine Krankenschwester. Die hat er gegen einen weiteren englischen Soldaten eingetauscht. Die meiste Zeit ist Jörg jetzt mit seiner Soldatenschachtel unterwegs.
Helga spielt mehr mit ihren Puppen. Damit unterhält sie sich stundenlang. Auch den Kreisel hat sie viel in Betrieb. Heute Nachmittag ist sie mit Margret zu deren Tante gegangen. Ab Freitag will sie ins KdF-Turnen in die Luisenschule gehen. Schaden kann es ihr ja nicht. Einen Turnanzug habe ich ihr gekauft. Helga geht mit mehreren Kindern aus ihrer Klasse hin.
Eine Neuanschaffung habe ich auch gemacht. Ich habe einen dazu geeigneten Kleiderstoff für Gardinen gekauft. Ich wollte es schon längst einmal tun, aber ich fand nie das richtige. Denn jedes Muster eignet sich ja nicht dazu. Wir haben nun in unserem Schlafzimmer und Kinderzimmer neue Gardinen. Es sieht gleich viel netter und freundlicher aus. Leider hat es schon wieder den Neid erregt. Ich hatte kaum die Gardinen einen Tag dran, da sehe ich, als ich im Kinderzimmer bin, wie die Gardi von Leimenstolls ans Fenster kommt, auf die Gardinen sieht und, ehe ich hingehen kann, rauf läuft. An diesem Tag hat Frau Leimenstoll den ganzen Tag rumgetobt. Sie ließ auch vernehmen, dass wir faul seien und auch schaffen gehen müssten, sie hätte auch gehen müssen. Es ist nur, ich rege mich gar nicht mehr auf.
Ich hatte dir auch noch nicht geschrieben, dass ich mit Herrn Schwehr Krach hatte. Eigentlich kann man es nicht Krach nennen. Ich höre eines Tages hinterm Haus Krach. Da unsere Kinder unten waren, sehe ich aus dem Fenster, und kaum habe ich das getan, brüllt Herr Schwehr, der erst Krach mit Frau Bolz gehabt hat, mich an. Ich war so verdutzt, dass ich gar nicht alles verstanden habe, nur so viel hörte ich, dass es mir jetzt auch besser ginge, als vor dem Kriege. Alle fragten mich hinterher, was Herr Schwehr denn mit mir gehabt hätte. Er soll noch gesagt haben, da könnte man gut immer Heil Hitler schreien. Das weitere haben auch die Leute nicht verstanden. Als er so brüllte, fragte ich: „Was haben sie denn mit mir?“. „Nichts, aber ich habe Ihnen mal was gesagt“ war die Antwort. Seitdem sehe ich den Mann gar nicht mehr, er kann mir direkt vor den Füßen herumlaufen. Ich hoffe, dass du dich nicht über die Sache ärgerst. Ich schreibe es dir nur, damit du weißt, was gelaufen ist. Es ist ja auch schon lange her, kurz nach deinem letzten Urlaub.
Gerade ist Helga heim gekommen. Sie hat zwei große Sträuße mit Taubnesseln heim gebracht, damit wir wieder Tee haben. Das ist doch lieb, dass sie daran gedacht hat.
Wir haben uns so an unser neues Radio gewöhnt. Zum Spaß hatte ich in der Stube mal den alten Apparat angeschlossen. Da hat man aber den Unterschied gemerkt. Man hat richtig die Ohren spitzen müssen, um etwas zu verstehen.
Vorgestern Nachmittag ist im Bettelgäßle der linke obere Kastanienbaum bis auf den Stamm abgebrochen. Er war ganz morsch. Einige Telegrafenstangen hat es gleich mit umgelegt.
Nun laß mich wieder schließen. Ich grüße und küsse Dich recht herzlich deine Annie.

Liebes Vaterle! Auf der Messe haben wir uns einen Kreisel gekauft, der geht jetzt so gut, wie noch keiner, den ich gekauft habe. Viele Grüße und 10000000000 Küsse von Deiner Helga.
Viele Grüße und 10000000000 Küsse von deinem Jörg.

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