Samstag, 21. November 2015

Brief 94 vom 18./19.11.1940


Mein liebster Ernst!                                               Konstanz 18.Nov. 40 

Diese Woche hat besser begonnen als die vorhergehende, denn meine Finger sind fast wieder heil. Vor allen Dingen kann ich nun wieder so ziemlich alles schaffen. Da gibt es für mich mancherlei nachzuholen. Vor allen Dingen auch im Garten. Heute habe ich mal vorläufig am Zaun das dürre Zeug von den blauen Blumen abgeschnitten und das schräge Beet hinterm Haus soweit es geht abgeräumt. Nun muß ich das noch umgraben. Später will ich dann noch den Mist an die Erdbeeren tun. Es ist eben alles liegen geblieben. Morgen oder übermorgen will ich aber erst noch vom Gutshof den Mist für Vater holen.
Dieser Tag ist nun auch wieder vergangen, ohne daß ein Brief von Dir angekommen ist. Eigentlich sollte ich es ja nun bald gewöhnt sein, daß die Post unregelmäßig eingeht, aber ich bin doch immer wieder enttäuscht, wenn ein Tag ohne Brief vergeht. Wie ich ja schon aus Deinen Briefen ersehen habe, geht es Dir ebenso.
Heute war wieder einmal einer der wenigen Tage in letzter Zeit, die sonnig waren. Das heitert einen doch gleich ein wenig auf. Leider ist es nun gegen Abend schon wieder damit vorbei, denn es bewölkt sich. Einige Tage hat es auch gegeben, an denen man die Berge wundervoll sehen konnte. Da kann ich mich immer gar nicht satt sehen. Einmal waren die Berge so nahe gerückt, daß man meinen konnte, sie ständen bereits bei Romanshorn. Sie haben auch alle schon wieder ein weißes Kleid angezogen. Wenn ich über die Brücke fahre und die Berge sehe, meine ich manchmal, da solltest Du auch da sein, das würde Dir sicher auch Freude machen. 
Jetzt hast Du ja dort zum Ersatz andere Freuden, die Du später hier wieder entbehren mußt, wie Kino, Variete und Theater. Da darf natürlich die Gegend dort nicht so schön sein, sonst wäre ja hier gar nichts mehr, auf was Du Dich freuen könntest. Außer uns natürlich, denn ich hoffe, daß wir Dir unersetzlich sind. 
Im Herbst ist ja das Leben jetzt ziemlich langweilig. Man ist die meiste Zeit ans Haus gefesselt und alle. Na, wie müssen eben sehen, daß wir so gut wie möglich durch den Winter kommen. Ich habe ja oft rechte Sehnsucht nach Dir. Vergiß auch Du mich nicht.  Von den Eltern ist auch noch kein Brief angekommen. Ich glaube, die haben uns vergessen. Eine Karte habe ich vor ein paar Tagen nochmals geschickt. Mal sehen, ob sie nun etwas von sich hören lassen. Nun will ich wieder schließen. Ich muß jetzt immer sehen, daß ich nicht so spät fortkomme, da es bald dunkel wird. Ich will nachher noch einmal nachfragen, ob es wieder Rückstrahler gibt. Sei Du, lieber Ernst, recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.


 Mein lieber Ernst!                                                       Konstanz, 19.11.40

Heute kam wieder kein Brief von Dir an,. Das ist sehr traurig, denn ich sehne mich sehr nach ein paar lieben Worten von Dir. Hier ist so richtiges Herbstwetter, wieder neblig. Das drückt so nieder. Ich bin jetzt auch viel öfter als im Sommer an die Wohnung gebunden, da man ja bei Regenwetter, wie es jetzt öfter herrscht, nicht so gut im Garten schaffen kann. Wenn ich dann am Abend so einsam sitze, kommen mir so viele Gedanken und ich muß sehr dagegen ankämpfen, um nicht in trübe Stimmung zu verfallen. Da freue ich mich dann immer, wenn ich wieder einen Brief bekomme, aus dem ich lesen kann, daß Du mich genau wie früher lieb hast. 
Ein liebes Päckchen habe ich heute Nachmittag von Dir erhalten. Als ich es aber öffnen wollte, durfte ich es nicht, denn „nicht öffnen“ stand da drauf. Für das Päckchen danke ich Dir. Für die Sachen, die drin sind, kann ich es noch nicht, denn ich darf sie ja noch nicht sehen. Eine kleine Weihnachtsfreude ist mir also schon ins Haus geflogen. 
Von den Eltern erhielt ich heute früh ein Zeitungspaket mit Brief, von dem Du wahrscheinlich eine Abschrift erhalten haben wirst, wie ich sie ja auch von dem Brief an Dich bekommen habe. Eine erfreuliche, wenigstens unter den jetzigen Umständen erfreuliche Nachricht, ist ja die, daß Hans Krall nicht tot ist. Da wird Tante Agnes froh sein, wenn auch Gefangenschaft kein schönes Los ist. 
Der heutige Vormittag war mit dem holen von Mist ausgefüllt. Das wäre also auch geschafft.  Da ich jetzt wieder stricken kann, bin ich sehr froh, daß ich wieder Zeitungen bekommen habe.  Beim stricken läßt es sich ja ganz gut lesen und die Abende gehen schneller vorbei. Die Eltern fragen doch wegen eines Geschenks für Jörg an. Ich werde schreiben, daß sie ihm die Soldaten kaufen mögen, die er sich wünscht. Das ist Dir doch sicher recht. In letzter Zeit schreibst Du mir nie mehr, wenn Du ins Theater oder Kino gegangen bist und was gespielt wurde. Das hat mich aber immer sehr interessiert.  Würdest Du mir‘s bitte wieder schreiben. 
Ich hätte auch noch eine Bitte an Dich.  Könntest Du mir nicht einmal aufzeichnen, wie so alle Möbel in den Zimmern stehen, die Du bewohnst? Das heißt, wenn es Dir nicht zu viel ist. Ich möchte doch gern wenigstens ein bißchen mit Dir leben und so kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie alles bei Dir ist.
Ach Ernst, ich glaube, ich habe Heimweh nach Dir und da quäle ich Dich mit so viel Wünschen. 
Ich möchte für heute gern schließen und grüße und küsse Dicht recht oft und fest Deine Annie.

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