Montag, 16. November 2015

Brief 91 vom 14.11.1940


Mein lieber Ernst!                                                    Konstanz, 14.11.40    

Am 14. vor einem Monat hieß es schon, übermorgen mußt Du wieder fortfahren. Schon wieder ist ein Monat vorbei.  Ich finde in letzter Zeit kommt die Post sehr unregelmäßig an. Heute früh habe ich auch keinen Brief von Dir bekommen. Nur der Koffer von Kurt kam an. Im verpacken ist doch Kurt leichtsinnig. Er hat den Koffer nur einfach zugemacht, ohne Bindfaden drum zu tun, also auch nicht abgeschlossen. Im Koffer waren seine ganzen Schlüssel, das Photoalbum, seine Schreibmappe und Verschiedenes mehr. 
Du wirst dich wundern, daß ich heute so scheußlich schreibe. Das kommt daher, daß ich mit dem rechten Daumen nicht richtig zufassen kann. Mit meinen Händen bin ich in den letzten Wochen ein richtiger Pechvogel. Nur gut, daß mich Helga ein bißchen unterstützen kann. Erst waren doch die Stellen von den Brombeerstacheln vereitert. Vier hemdknopfgroße Blasen habe ich mir aufschneiden müssen, da das aufstechen nichts genutzt hat. Da ich nun nicht richtig zufassen konnte, denn drei von den Stellen waren an der rechten Hand, habe ich mich vor ca. 1 ½ Woche am linken Mittelfinger geschnitten. Nicht sehr schlimm, aber auch das eiterte auf einmal. Ich habe die letzten Abende immer Seifenbäder gemacht, darum bin ich auch abends nicht zum schreiben gekommen. Es wurde aber nicht besser und ging auch nicht auf.  Gestern wurde es nun ganz dunkelrot und um den Eiter rum blau. Da blieb mir auch nichts anderes übrig als aufschneiden. Ich war ganz entsetzt, was da alles raus kam. Ich habe auch da rings herum die Haut weg schneiden müssen, weil´s ziemlich eingefressen war. Das ist nun auch auf dem Weg der Besserung, aber damit mir´s nicht zu wohl wird, ist wieder was anderes gekommen. Als Jörg die Scheibe zerschmissen hat, mußte ich doch die Splitter entfernen. Da ich wieder nicht richtig zufassen konnte, habe ich mich scheinbar mit einer Spitze in den Fingernagel des rechten Daumens gestochen. Es ist nur ein kleiner Stich, aber das ganze obere Glied des Daumens tut furchtbar weh. Es ist eben so, wenn mir auch Helga verschiedenes hilft, Kartoffeln schälen und so Sachen muß ich doch selber machen. Da weichen eben die Pflaster weg und die Wunde wird wieder schlimmer. Bin ich nicht ein Pechvogel? 
Vorgestern habe ich nach vielem Bitten die Puppenküche und den Kaufmannsladen vom Speicher geholt. Beide Kinder sind ganz selig. Gestern fragte nun Helga: „Hast Du auch eine Puppenküche gehabt?“ „Ja“ „Auch so groß?“ „Ja“ „Auch einen Balkon?“ „Ja“ „Hast Du vielleicht die Puppenküche gehabt, die mir jetzt gehört?“ Nach einigem Zögern habe ich das dann bejaht. Im nächsten Moment bin ich fast erdrückt und fest geküßt worden. Mit dem Ruf „Das ist fein, das ist aber fein“ hing Helga an meinem Halse. Da mußte ich nun Helga alles erzählen und dann sagte sie: „Weißt Du, die hebe ich gut auf, die kriegen meine Kinder und von denen wieder ihre Kinder.“ Auf meinen Einwurf „Na, das wollen wir mal sehen“ sagte sie dann „Das kannst Du doch dann gar nicht mehr sehen, da bist Du ja schon lange tot.“ Ich habe beiden Kindern dann auch zur Warnung erzählt, wie ich mal so feste Schläge bekommen habe, weil ich naschen wollte. Helga sagte darauf: “Weißt Du, ich möchte den Papa nicht als Vater haben, unser Vaterle ist dagegen viel lieber.“ Vor den festen Schläge hat sie ziemlich Respekt bekommen. 
Heute Nachmittag ist nun doch noch ein Brief von Dir gekommen, vom 10.11. Der letzte, den ich erhielt, war vom 7. Es kommt also alles durcheinander an.  In ein Geschäft möchte ich nicht gern gehen, um mich nach dem Preis für einen Pelzmantel zu erkundigen. In der Zeitung stand aber jetzt mal „Pelzmäntel von 287,-Mk a n . Das wird dann auch nicht der Beste sein. 
Ich werde also Vater vom Kaffee abgeben. Der wird sich sicher freuen. Bis jetzt ist noch niemand wieder wegen der Küche da gewesen. Ich muß sowieso wegen der Waschküche noch mal zu Herrn Döbele. Da werde ich noch mal nachfragen. Vater kam gestern Abend und sagte, wenn ich wegen dem Mist noch nichts unternommen habe, solle ich‘s sein lassen, denn er könnte mir die ganze Arbeit nicht zumuten. Ich habe ihm gesagt, daß ich es schon bestellt habe, und daß ich es schon mit erledigen werde. Es ist doch Dein Vater. 
Der Brief an die Kinder ist heute noch nicht angekommen. Wahrscheinlich wird er morgen eintreffen.  Du schreibst, daß Ihr bei einer bekannten Familie, welche in Richtung Arras wohnt, Kaffee getrunken habt. Woher kennt Ihr die Leute alle? Ihr seid doch eigentlich fremd dort. Ich glaube, Ihr schafft Euch dort so langsam einen Bekanntenkreis an und werdet ganz heimisch.  Vergiß nur uns dabei nicht. Wie ich aber lesen kann, hast Du Dich auch bei der Familie an uns erinnert. Lieber Ernst! Ich möchte nun mit schreiben aufhören, denn der Daumen tut mir ziemlich weh.  Sei nun für heute herzlich gegrüßt und geküßt von Deinem halben Invaliden Annie.

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