Mein lieber Ernst! Konstanz, 14.11.40
Am 14. vor einem Monat hieß es
schon, übermorgen mußt Du wieder fortfahren. Schon wieder ist ein Monat
vorbei. Ich finde in letzter Zeit kommt
die Post sehr unregelmäßig an. Heute früh habe ich auch keinen Brief von Dir
bekommen. Nur der Koffer von Kurt kam an. Im verpacken ist doch Kurt
leichtsinnig. Er hat den Koffer nur einfach zugemacht, ohne Bindfaden drum zu
tun, also auch nicht abgeschlossen. Im Koffer waren seine ganzen Schlüssel, das
Photoalbum, seine Schreibmappe und Verschiedenes mehr.
Du wirst dich wundern, daß ich
heute so scheußlich schreibe. Das kommt daher, daß ich mit dem rechten Daumen
nicht richtig zufassen kann. Mit meinen Händen bin ich in den letzten Wochen
ein richtiger Pechvogel. Nur gut, daß mich Helga ein bißchen unterstützen kann.
Erst waren doch die Stellen von den Brombeerstacheln vereitert. Vier
hemdknopfgroße Blasen habe ich mir aufschneiden müssen, da das aufstechen
nichts genutzt hat. Da ich nun nicht richtig zufassen konnte, denn drei von den
Stellen waren an der rechten Hand, habe ich mich vor ca. 1 ½ Woche am linken
Mittelfinger geschnitten. Nicht sehr schlimm, aber auch das eiterte auf einmal.
Ich habe die letzten Abende immer Seifenbäder gemacht, darum bin ich auch
abends nicht zum schreiben gekommen. Es wurde aber nicht besser und ging auch
nicht auf. Gestern wurde es nun ganz
dunkelrot und um den Eiter rum blau. Da blieb mir auch nichts anderes übrig als
aufschneiden. Ich war ganz entsetzt, was da alles raus kam. Ich habe auch da
rings herum die Haut weg schneiden müssen, weil´s ziemlich eingefressen war.
Das ist nun auch auf dem Weg der Besserung, aber damit mir´s nicht zu wohl
wird, ist wieder was anderes gekommen. Als Jörg die Scheibe zerschmissen hat,
mußte ich doch die Splitter entfernen. Da ich wieder nicht richtig zufassen
konnte, habe ich mich scheinbar mit einer Spitze in den Fingernagel des rechten
Daumens gestochen. Es ist nur ein kleiner Stich, aber das ganze obere Glied des
Daumens tut furchtbar weh. Es ist eben so, wenn mir auch Helga verschiedenes
hilft, Kartoffeln schälen und so Sachen muß ich doch selber machen. Da weichen
eben die Pflaster weg und die Wunde wird wieder schlimmer. Bin ich nicht ein
Pechvogel?
Vorgestern habe ich nach vielem
Bitten die Puppenküche und den Kaufmannsladen vom Speicher geholt. Beide Kinder
sind ganz selig. Gestern fragte nun Helga: „Hast Du auch eine Puppenküche
gehabt?“ „Ja“ „Auch so groß?“ „Ja“ „Auch einen Balkon?“ „Ja“ „Hast Du
vielleicht die Puppenküche gehabt, die mir jetzt gehört?“ Nach einigem Zögern
habe ich das dann bejaht. Im nächsten Moment bin ich fast erdrückt und fest
geküßt worden. Mit dem Ruf „Das ist fein, das ist aber fein“ hing Helga an
meinem Halse. Da mußte ich nun Helga alles erzählen und dann sagte sie: „Weißt
Du, die hebe ich gut auf, die kriegen meine Kinder und von denen wieder ihre
Kinder.“ Auf meinen Einwurf „Na, das wollen wir mal sehen“ sagte sie dann „Das
kannst Du doch dann gar nicht mehr sehen, da bist Du ja schon lange tot.“ Ich
habe beiden Kindern dann auch zur Warnung erzählt, wie ich mal so feste Schläge
bekommen habe, weil ich naschen wollte. Helga sagte darauf: “Weißt Du, ich
möchte den Papa nicht als Vater haben, unser Vaterle ist dagegen viel lieber.“
Vor den festen Schläge hat sie ziemlich Respekt bekommen.
Heute Nachmittag ist nun doch
noch ein Brief von Dir gekommen, vom 10.11. Der letzte, den ich erhielt, war
vom 7. Es kommt also alles durcheinander an.
In ein Geschäft möchte ich nicht gern gehen, um mich nach dem Preis für
einen Pelzmantel zu erkundigen. In der Zeitung stand aber jetzt mal „Pelzmäntel
von 287,-Mk a n . Das wird dann auch nicht der Beste sein.
Ich werde also Vater vom Kaffee
abgeben. Der wird sich sicher freuen. Bis jetzt ist noch niemand wieder wegen
der Küche da gewesen. Ich muß sowieso wegen der Waschküche noch mal zu Herrn
Döbele. Da werde ich noch mal nachfragen. Vater kam gestern Abend und sagte,
wenn ich wegen dem Mist noch nichts unternommen habe, solle ich‘s sein lassen,
denn er könnte mir die ganze Arbeit nicht zumuten. Ich habe ihm gesagt, daß ich
es schon bestellt habe, und daß ich es schon mit erledigen werde. Es ist doch
Dein Vater.
Der Brief an die Kinder ist heute
noch nicht angekommen. Wahrscheinlich wird er morgen eintreffen. Du schreibst, daß Ihr bei einer bekannten
Familie, welche in Richtung Arras wohnt, Kaffee getrunken habt. Woher kennt Ihr
die Leute alle? Ihr seid doch eigentlich fremd dort. Ich glaube, Ihr schafft
Euch dort so langsam einen Bekanntenkreis an und werdet ganz heimisch. Vergiß nur uns dabei nicht. Wie ich aber
lesen kann, hast Du Dich auch bei der Familie an uns erinnert. Lieber Ernst!
Ich möchte nun mit schreiben aufhören, denn der Daumen tut mir ziemlich weh. Sei nun für heute herzlich gegrüßt und
geküßt von Deinem halben Invaliden Annie.
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