Montag, 16. November 2015

Brief 90 vom 12./13.11.1940


Mein lieber Ernst!                                                Konstanz, 12.November 40

 Heute erhielt ich Deinen lieben Brief vom 6.11. Recht vielen Dank dafür. Ich sehe aus ihm wieder, daß Du augenblicklich viel Arbeit hast. 
Mit dem Zeugnis von Helga können wir schon zufrieden sein. Sie hat gestrahlt, als ich vorgelesen habe, daß Du Dich darüber gefreut hast.  Du schreibst, wir wollen Dich nicht so viel loben, Du seist auch nur ein Mensch. Ein bißchen Lob mußt Du Dir schon gefallen lassen. Wenn Du auch nur ein Mensch bist, so bist Du doch für uns der liebste Mensch. 
Aus Deinem Brief habe ich nun auch ersehen, warum Du am 6. so spät ins Bett gekommen bist. Da war also Dein gutes Herz daran schuld, denn das hat Dich doch veranlaßt, den beiden Chefs über die Katerstimmung hinweg zu helfen. Du armer Kerl, Du bist zu bedauern. Die Hauptsache war ja, daß Du am nächsten Morgen frisch und munter warst, wie ich aus dem Brief vom 7. lesen konnte. 
Daß Brombeerstacheln Schwierigkeiten machen, habe ich gemerkt. Zwei Finger eitern immer noch. Es ist gut, daß ich die vielen Leukopflaster mit Mulleinlage habe. Das sieht wenigstens sauber aus. Ich habe schon ein ganz Teil verbraucht, denn bei den Hausarbeiten werden sie doch oft feucht und schmutzig. Helga wäscht mir ja schon die ganze Zeit über ab, jeden Tag, da brauche ich nicht so oft ins Wasser fassen. Meist trocknet sie auch noch ab. Man sieht doch, daß man schon eine große Tochter hat. Ich möchte nur wissen, woher das kommt. Jeder kleine Riß eitert gleich, es brauchen nicht mal Brombeerstacheln sein.  Heute hat Jörg auch wieder mal was angestellt. Er hat seine erste Fensterscheibe zerschmissen. Er war im Kinderzimmer. Da wollten wieder die Kinder von Büsings reingucken. Erst hat er sie angebrüllt, sie sollten fort gehen. Als sie zu dem kleinen Fenster hereinlangen wollten, hat er zugeschlagen, zwar mit der flachen Hand (ich habe es gesehen), da er sich im Handteller ein bißchen geschnitten hat, aber so stark, daß die untere Scheibe futsch war. Ich habe mich erst schwer geärgert, denn 3 bis 4 Mk. sind umsonst rausgeschmissen, aber es läßt sich nicht mehr ändern. Da aber Strafe sein muß, gehen wir nun nicht in die Film-Märchenstunde, in die wir eigentlich gehen wollten. 
Morgen früh 9 Uhr muß ich mit Helga zur Untersuchung, von der Krankenkasse aus, zu Dr. Nast.  Gestern Nachmittag habe ich noch die Dahlien in den Keller getan und einen Teil Möhren eingekellert. Im Freien kann ich heute auch nichts tun, denn es regnet schon wieder den ganzen Tag.  Als die Flieger vor ein paar Tagen da waren, haben sie die SS-Kasernen in R. bombardiert, aber nur einen Schuppen getroffen. Die Kasernen selber sind nicht beschädigt. Als die Bomben fielen, hat man das bei uns aber ganz genau gehört, es müssen drei Stück gewesen sein. Herr Leimenstoll, der wieder auf Urlaub da war, sagte gleich, daß das bestimmt Bomben gewesen seien. Sonst gebe ich ja nicht viel auf dessen Urteil, aber da hat er mal recht gehabt.  Nun will ich in die Stadt und beim Glaser vorbei fahren, damit das Fenster bald wieder in Ordnung kommt.  Mein lieber Ernst, sei recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.  Ich habe Dir doch mal einen Zeitungsausschnitt geschickt, in dem davon die Rede war, daß zu schwere Päckchen an die NSV gehen. Gestern stand nun in derselben Zeitung der beiliegende Artikel.

Lieber Ernst!                                                                 12.11.40

Ich habe das Päckchen teilweise noch einmal aufgepackt, um Dir mitzuteilen, daß heute Nachmittag die zwei ersten Päckchen mit der Bluse, dem Jäckchen, dem Leder, Kaffee und den Strümpfen angekommen sind. Sind sie also doch noch angekommen.


Mein lieber Ernst!                                                    Konstanz, 13.11.40

Heute trudelte endlich der Brief vom 4. ein. Der hat lange gebraucht, bis er bei mir war.  Du hast Dich also gefreut, daß ich Dir etwas Gebäck mitgeschickt hatte. Das freut mich nun auch wieder. Inzwischen wird es ja nun alle geworden sein.  Der Name, Professor Spiegel, ist mir nicht unbekannt. In der Zeitung “Wir sind im Bilde“ muß ich schon etwas von ihm gesehen haben oder im I.B. Wenn ein Mann mit 61 Jahren noch mit nach England fliegt, so ist das schon eine Leistung. 
Ihr seid aber doch Süffel. Sieben Flaschen Sekt an einem Abend, um Himmels willen. Mir würde dabei Angst. Ihr seid ja da schon eher etwas gewöhnt.  Heute früh waren wir beim Arzt. Helga ist gesund. Jetzt hat er ihr noch eine Salbe am Rücken eingerieben. Warum, weiß ich nicht, nur ungefähr handtellergroß. Am Samstag müssen wir nochmals hinkommen, da will er sehen, was draus geworden ist.  Wir hatten die vergangenen Tage ziemlich stürmisches Wetter. Da steht unser Baum ganz kahl da. Alle Blätter hat es abgeweht.
Ich weiß gar nicht, was mit den Eltern los ist. Auf meinen Brief habe ich bis heute noch keine Antwort erhalten. Vielleicht schreibe ich noch eine Karte.  Gestern haben wir das zerbrochene Fenster wieder ganz machen lassen. Es hat nicht 3,- sondern nur 2,- gekostet. Da war ich ganz froh, aber Jörg fast noch mehr. Ich hatte ihm nämlich gesagt, das würde alles von den Weihnachtsgeschenken abgezogen.  Da kannst Du Dir die Angst denken.  Lieber Ernst, ich weiß heute gar nichts mehr zu schreiben. Sei bitte für heute mit dem Wenigen zufrieden. Sei recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen