Samstag, 11. Juni 2016

Brief 173 vom 11./12.6.1941


Mein lieber Ernst!                                                           Konstanz, den 11.6.41 abends

Heute habe ich keinen Brief an Dich abgeschickt, trotzdem ich einen bekommen habe, vom 6.6. Heute hatte ja Helga keine Schule und so habe ich das benutzt und habe fast den ganzen Tag im Bett gelegen und geschlafen.
Nun will ich aber Deinen lieben Brief beantworten. Der Streik bei Euch hat sich also noch verschärft. Am schlimmsten ist es ja, wenn sich Frauen einmischen. Das hat man ja früher bei uns in Deutschland auch gesehen. Mir ist ja die Hauptsache, daß Dir nichts dabei passiert.
Mit den Schuhen  für mich ist es so. Ich habe doch fast alles Schuhe mit höheren Absätzen als sie bei den Sportschuhen, die Du besorgt hast, sind. Dadurch wirkt doch das Schuhmuster kleiner. Am besten richtet man sich nach der Nummer. Ich schicke Dir nun noch einen Fußabdruck mit. Vielleicht nützt Dir das eher etwas. Es tut mir leid, daß ich Dir die Überraschung so verpatzt habe, aber ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht, wenn Helga und ich die gleichen Schuhe hätten. Vielleicht kommt es auch daher, daß ich krank bin, da macht man sich über alles weniger Gedanken. Jörg ist von seinen Schuhen auch begeistert. Er traut sie sich gar nicht anzuziehen, damit sie ja nicht kaputt gehen.
Nun wegen dem schießen. Du schreibst, ich hätte geschrieben, Du hättest „doch noch“ gut abgeschnitten. Da habe ich wirklich keinen Hintergedanken gehabt, denn es sind Deine eigenen Worte. Das bezieht sich doch auf den zweiten Schuß mit einer 7, von dem Du selbst schreibst, daß er Dich geärgert hat, so daß Du Dir noch einmal fest Mühe gegeben hast, so daß Du durch eine 12 „doch noch gut abgeschnitten hast“. Du siehst also, dass gar kein böser Gedanke dabei war. Das darfst Du auch nicht denken. Ich habe Dich doch viel zu lieb, als daß ich so boshaft schreiben würde. Es ist aber so, wir sind schon wieder eine ganze Weile voneinander getrennt, da schleichen sich schon wieder so Mißverständnisse ein. Also, lieber Ernst, Du darfst nicht bös von mir denken, nicht wahr!
Kurt wird sich sicher über den Artikel vom Killenweiher freuen, denn davon hat er doch oft gesprochen.
Inzwischen bist Du wahrscheinlich schon aus Deinem Zimmer ausgezogen und wohnst nun mit Deinen Kameraden zusammen. Ich bin ja gespannt, wie es Dir da gefällt. Du wirst dich auch erst wieder eingewöhnen müssen.

                                                                                                         12.6.    
Als ich gestern weiter an Dich schreiben wollte, kam Vater. Da ich ihm erzählt hatte, dass ich keinen Appetit habe, besonders nicht auf Butter, Wurst usw., brachte er mir ein großes Glas Marmelade mit. Es schmeckt mir auch wirklich und ich habe schon mehrere Brote gegessen. Etwas regt sich mein Appetit ja wieder. Mittags esse ich jetzt auch immer ein bißchen mit.
Heute Vormittag habe ich auch endlich einmal alle Wäsche wegbügeln können, die noch dalag. Es wurde ja endlich Zeit. Hinterher habe ich mich von dieser „Riesenarbeit“ wieder ausgeschlafen und bin nun wieder munter. Ich muß mir eben jetzt alles einteilen.
Heue ist das Wetter ein wenig besser als gestern. Es ist zwar noch bewölkt, aber es regnet wenigstens nicht. Jörg ist unten beim Soldatenspielen. Er ist natürlich der „Höchste“. Anders geht es gar nicht. Helga hat vorhin Schularbeiten gemacht. Jetzt hat sie aber schnell die Gelegenheit benutzt ehe sie den Brief wegschaffen, noch zum Seilspringen runter zu kommen.
Ich packe heute das Heft von Kurt an Dich ein. Im zusammengerollten Heft ist die Zahnbürste und die Zahnpasta. Hoffentlich kommt alles gut an. Einen Brief habe ich nicht beigelegt.
Die zurückgesandten Bilder hebe ich auf, bis Nanni einmal kommt. Bis jetzt hat sich noch niemand sehen lassen. Das ist ja jetzt auch ganz gut so.
Jörg wird auch schon ziemlich selbständig, seitdem ich krank bin. Er kann sie Brote schneiden und schmieren, und was die Hauptsache dabei ist, er vergeudet nicht. Auch zum Einkaufen kann man ihn schon allein schicken. Heute war er beim Metzger und in der Bodan-Apotheke. Schaden kann es ihm ja nichts, denn wenn er nun bald zur Schule muß, ist ihm der Weg doch nicht mehr so ungewohnt.
Nun will ich schließen, mein lieber, lieber Ernst. Ich glaube, wenn du hier wärst, wäre ich schon wieder gesund. Denn wenn ich Dich sehe, bin ich von ganzer Seele froh und Freude macht doch auch gesund. Das ist ja aber jetzt nicht möglich und  so beißen wir uns eben durch.
Sei für heute wieder recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

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