Freitag, 3. Juni 2016

Brief 168 vom 3.6.1941


Mein lieber Ernst!                                                         Konstanz, den 3. Juni 1941  

Der Briefträger war ja noch nicht da, aber ich will doch gleich mit schreiben beginnen. Die Pfingstfeiertage sind ja auch wieder vorbei. Bei dem schönen Wetter ist, wie es auch in der Zeitung steht, überall mächtiger Betrieb gewesen. Die Leute haben kaum auf den Schiffen Platz gehabt. Da war es doch ganz gut, daß wir gestern nicht gefahren sind, abgesehen davon, daß ich ja nicht konnte.
Ich denke, daß ich wieder über den Berg bin. Gestern bin ich den ganzen Tag auf gewesen und heute will ich in die Stadt fahren. Natürlich nicht mit dem Rad, sondern erst einmal mit dem Omnibus. Ich will bei dieser Gelegenheit meine Kennkarte holen und Vater hat mir seine Gasrechnung über 56,70 M zum bezahlen mitgegeben. Das sind die 235 Kw.
Das einzige, was noch nicht in Ordnung ist, das ist der Hals. Es löst sich wohl immerzu, aber ich muß auch dauern aushusten, dadurch kann ich fast gar nicht schlafen. Ich denke aber, daß sich das auch bald geben wird.
Gestern wollte Vater gleich am Nachmittag kommen. Wollte! Als er auf ein paar Minuten kam, war es 1/2 9. Er brachte noch ein paar Stück  Kuchen mit. Eigentlich wollte er von seinem Streuselkuchen mitbringen, aber „der ist ein bißchen dunkel geworden. Ich habe das Gas ein bißchen größer gestellt, denn man will doch, daß es nicht so lange dauert, da war er gleich ein wenig dunkel.“ Da ich gestern den ganzen Tag auf war, habe ich schon 1/2 10 Schluß gemacht. Es  war ihm aber ganz recht, denn er wollte sowieso noch „etwas von dem harten Streuselkuchen essen, und da brauche  ich Zeit dazu. Früh ist mir die Zeit dazu zu kurz“ meinte er. 
Die Kinder hatten gestern Nachmittag den Brief für Dich weggebracht. Da haben sie in der Stadt einmal warten müssen, da der Omnibus besetzt war und in den zweiten sind sie gerade noch mit knapper Not hineingekommen. Helga erzählte mir, wie an allen Haltestellen die Leute lange Hälse gemacht haben, weil sie nicht mehr mit konnten.
Da habe ich denn doch ein friedlicheres Pfingsten gehabt. Ich habe mich wenigstens nicht drängeln brauchen. Ich habe gestern in Herzog und Vogt gelesen. Es hat mir sehr gut gefallen.
Ich bin jetzt gerade erst einmal im Garten gewesen und habe mir alles angesehen. Es geht alles gut vorwärts. Die Erdbeeren blühen besser, als ich es erst dachte. Der Salat, den Du dazwischen gepflanzt hast, kann jetzt geholt werden. Die Beeren an den Stachelbeer- und Johannisbeersträuchern sind schon ziemlich groß. Die Dahlien treiben Blätter, die Kartoffeln sind schon ziemlich weit heraus und sollten jetzt eigentlich einmal gehackt werden. Aber das kann ich jetzt leider noch nicht. Die Kohlrabi setzen Knollen an. Die Bohnen sind heraus oder sind gerade dabei, herauszukommen. Einzelne Gurken kommen auch schon. Ich denke, daß in den nächsten Tagen alle kommen werden.
Nachdem ich vor 4 Tagen Deinen Brief vom 24. erhielt, kam heute Dein Schreiben vom 27.5. Ich danke Dir recht herzlich dafür. Vielleicht war es ganz gut, daß die Telefonverbindung nicht geklappt hat, denn nachdem ich krank war, war ich um 1/2 10 schon lang im Bett.
Ich bin jetzt gespannt, was die Stadt auf Deinen Brief antworten wird. Ich denke mir jedenfalls, daß sie vor Wut schnauben werden, denn die können nur Leute brauchen, die vor ihnen im Staube kriechen. Dann fühlen sie sich erst richtig als Herren. Richtig ist es, was Du geschrieben hast, denn warum sollst Du, der Du selbständige Arbeiten machst, schlechter gestellt sein als die Mädel. Denn die sind noch ledig, während Du Familie hast. Vor allen Dingen, wenn man weiß, daß es nur daran liegt, daß einen ein Mann nicht leiden kann. Darunter kann man doch schließlich nicht das ganze Leben lang leiden. Da muß man eben doch sehen, daß man wo anders hinkommt.
Wegen der Schokolade ist es jetzt klar. So viel für Milchschokolade ausgeben wäre ja Unsinn.
Heute erhielt ich auch einen Brief von Alice. Ich schreibe ihn Dir gerade mit ab:

Meine liebe Marianne und Kinder!
Deinen lieben Brief mit Freude erhalten, vielen Dank dafür. Die Bilder von den Kindern haben uns sehr viel Freude bereitet, jetzt kann ich es Dir ja schreiben. Seit vielen Jahren habe ich darauf gewartet, wir selber haben keine Kinder und sind beide sehr kinderlieb. Manche Träne hat es mich gekostet, wenn ich sehe, wenn die Kinder zur Schule kommen, nur von uns keine. Es ist so im Leben, nicht jeder Wunsch wird einem erfüllt und manchmal packt das Leben hart an und da ist es schön, wenn man im Leben jemand hat, zu dem wir gehören. Schreib mir doch bitte, wann Jörg zur Schule kommt und ob wir nicht dem kleinen Kerl eine Freude machen können. Dass Du viel Arbeit hast, glaube ich gern, schöner ist es, wenn Dein lieber Ernst wieder daheim ist und mithelfen kann. Wir wollen hoffen, daß der Krieg bald zu unseren Gunsten entschieden ist. Daß ich auf Arbeit gehe, habe ich Dir schon mal geschrieben. Da fehlt es auch nicht an Arbeit. Im Krieg soll eben jeder helfen auf seine Art. Ich möchte Euch alle mal sehen und mit Dir mal plaudern. So recht nahe sind wir uns noch nicht gekommen. Als Du fortmachtest warst Du noch sehr jung und so kennen wir beiderseitig unseren Charakter noch  nicht richtig. Ich glaube, wir würden uns gut verstehen, ich habe sehr viel von Mutter. Später, wenn wir alle älter sind und die Eltern nicht mehr sind, freuen wir uns, wenn wir uns haben. (Verzeihung, ich sprach von mir, ich weiß nicht, ob Du, liebe Marianne, auch so denkst) Bitte schreib mal etwas mehr von den Kindern und in der Hoffnung auf ein gutes Verstehen grüßt Dich und die Kinder herzlich  gez. Deine Alice und Paul.

Also, über meinen Brief hat sie sich scheinbar doch gefreut. Ich werde ihr in den nächsten Tagen wieder antworten. Einen Wunsch für Jörg zur Schule habe ich ja nicht, denn einen Ranzen hat er, Schieferkasten bekommt er von Frau Diez und die Bücher hat er noch von Helga. Da wäre eigentlich nichts zu wünschen. Anzuziehen können sie sowieso nichts kaufen, da sie ja keine Kinderkarten haben.
Das Zeitungspaket ist vorhin auch gekommen. Die Kinder haben mich schon gleich bestürmt, ich solle es aufmachen, aber erst kommt einmal Dein Brief daran. Das ist noch viel wichtiger, nicht wahr, lieber Schatz?
Sei nun für heute wieder recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen