Mittwoch, 8. Juni 2016

Brief 171 vom 8./9.6.1941


Mein lieber Ernst!                                                                    Konstanz, den 8.6.41  

Es gibt eigentlich jeden Tag weniger zu erzählen, wenn ein Tag wie der andere vergeht. Es ist nun schon der dritte Sonntag, an dem ich nicht fortgehen kann. Heute ist es aber wenigstens so, daß ich nicht mehr unbedingt liegen muß. Es geht mir also schon ganz gut. Natürlich ruhe ich mich nachher doch wieder aus, denn desto schneller werde ich wieder ganz gesund.
Es ist heute wieder ein ganz schöner Tag, wohl ein bißchen bewölkt, aber doch meist sonnig. Ich will dann einmal sehen, ob es zu windig ist, sonst setze ich mich ein wenig hinters Haus.
An Kurt und an die Eltern habe ich gestern noch geschrieben. Ich schicke Dir die Durchschläge mit. Sehr lang sind die Briefe ja nicht geworden, aber sie haben wenigstens wieder Nachricht von mir.
Die ersten Erbsen im Garten blühen schon. Sie sind eigentlich noch gar nicht so sehr hoch. Aber bei Leimenstolls ist es genau so. Das wird auch am Wetter liegen. Die Bohnen kommen jetzt auch fest. Das macht mir Freude. Die Kinder haben es mit dem Reisigholen immer noch hinausgeschoben, aber morgen oder übermorgen müssen sie doch gehen. Sonst krauchen uns die Bohnen am Boden lang.
Helga ist gerade wieder fleißig beim Abtrocknen, damit ich nicht so viel machen muß. Das ist schon eine große Überwindung für sie, denn Abtrocknen tut sie gar nicht gern. Das ist das schlimmste aller Arbeiten. Wir haben es jetzt auch so eingerichtet, daß Helga abends alle Schuhe einreiben und Jörg früh alle blank putzen muß. Früher haben sie ja auch daran nie wollen, aber jetzt, nachdem ich krank war, haben sie es schon tun müssen. Ich will natürlich, daß es auch weiterhin so bleibt.
Jetzt ist Helga gerade fertig. Da macht sie sich`s auf dem Liegestuhl noch ein wenig bequem. Wir haben ihn ans Fenster gerückt und da scheint sie die Sonne schön an. Jörg ist mit ein paar Soldaten im Hof und spielt. So hat jeder seine Beschäftigung.
Denk Dir mal, unsere Helga mag keinen Kuchen mehr. Wenn wir sonntags Kuchen haben, so ißt sie lieber Eingebrocktes. Den Kuchen überläßt sie gern uns. Was sagst Du dazu? Jörg dagegen nimmt gern Helgas Anteil zu seinem dazu. Er kann nicht genug bekommen. Quarkkuchen würde sie ja auch gern einmal essen, aber dazu reicht ja jetzt der Quark nicht. Vielleicht bekommt man ihn im Sommer wieder einmal ohne Marken. Da würde ich ihr diesen Wunsch erfüllen. 
Ich schließe nun für heute. Es hat sich inzwischen ziemlich bewölkt. Es sieht aus, als wenn ein Gewitter kommen will. Da möchte ich das bißchen Sonne noch ausnutzen.
Sei für heute recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

Mein lieber Ernst!                                                                               Konstanz, 9.6.41

Ich hatte es gar nicht zu hoffen gewagt, daß ich heute schon einen Brief von Dir bekommen würde und nun sind es sogar zwei gewesen, beide vom 3.6. Ich danke Dir sehr dafür.
Nun warst Du also über die Pfingstfeiertage in Lille. Wie ich aus Deinen Briefen ersehe, hat es Dir auch ganz gut gefallen. Das freut mich. Leid tut es mir nur, daß Du noch vorher von meiner Krankheit erfahren hast. Aus den zwei Tagen, wie Du angenommen hast, sind inzwischen zwei Wochen geworden, daß ich krank bin. Aber das schlimmste ist ja nun vorbei.
Wenn ich wieder ganz hergestellt bin, werde ich nachher Erde über den Mist tun. Ich habe heute schon versucht, einige Beete zu hacken. Es ist auch gegangen, aber noch mit etwas Mühe. Dadurch bin ich dann so müd geworden, daß ich nun den halben Nachmittag verschlafen habe. Aber jetzt fühle ich mich ganz wohl. Mit dem „jeden Tag das volle Pensum schaffen“ ist es jetzt bei mir nicht weit her. Wenn man krank ist, ist einem manches nicht mehr so wichtig von dem man meinte, es müsse unbedingt getan werden.
Auch ich habe mich sehr über Helga gefreut, wie sie mir fest geholfen hat. Der ganz große Eifer hat ja jetzt etwas nachgelassen, was aber nach so langer Zeit bei einem Kind gar nicht zu verwundern ist. Aber helfen tut sie mir doch immer wieder. Über die Schuhe habe ich Dir ja schon geschrieben. Helga würde am liebsten überhaupt keine anderen mehr anziehen, so gut passen und gefallen sie ihr.
Die Zahnpasta besorge ich Dir und schicke sie Dir mit der Zahnbürste zu. Ob ich nun gerade Nivea bekomme, die wir ja meist haben, weiß ich nicht. Man muß jetzt nehmen, was gerade vorrätig ist.
Heute morgen waren die Kinder im Wald und haben Reisig geholt. Ich will einmal sehen, ob ich es heute noch schaffen kann, daß ich es an die Bohnen tue. Die Kinder haben schönes großes Reisig gebracht, wie ich es brauche. Sie haben sich ziemlich abgeschleppt.
Wenn ich gesund bin, werde ich wahrscheinlich auch wieder einmal ins Kino gehen. Ich gehe mit den Kindern am Nachmittag. Da brauche ich abends nicht fort.
Wir haben heute wieder einmal reichlich Salat gegessen. Ich habe ja sonst wenig Appetit, aber auf Salat habe ich direkt einen Heißhunger. Wir brauchen dadurch ja ziemlich Zucker, aber das ist mir erst einmal ganz gleich. Ich will vor allen Dingen einmal wieder gesund werden. Da spare ich jetzt nicht.
Ich habe Helga vorgelesen, wie Du Dich über ihren Brief und über ihre Arbeit gefreut hast. Sie hat ganz gestrahlt und gesagt, aber Vaterle soll mir ja wieder schreiben.
Helga fährt nachher noch in die Stadt zum einkaufen. Da will ich den Brief jetzt beenden, sonst wird es zu spät.
Sei Du, mein lieber Ernst, recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

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