Freitag, 10. Juni 2016

Brief 172 vom 10.6.1941


Mein lieber Ernst!                                                                  Konstanz, den 10.6.41   

Ich danke Dir herzlich für Deinen lieben Brief vom 5.6. und Dein liebes Päckchen Nr. 11 mit den 5 Tafeln Schokolade. Von der Milchschokolade haben wir schon einmal probiert, d.h. ich nur ein ganz kleines Stück, denn sie ist ja schließlich für die Kinder. Die schmeckt noch besser als die andere mit Nuß. Sie ist ja auch teuer genug.
Eigentlich ist es mir schon über, Dir jeden Tag schreiben zu müssen, daß es mir noch nicht ganz gut geht. Du wirst vielleicht denken, „zum Donnerwetter, hat sie denn überhaupt keine Energie, daß das so lange dauert.“ Aber daran liegt es wirklich nicht, das darfst Du mir glauben. Ich gebe mir alle Mühe.  Aber ich war doch schon früher manchmal so kaputt und ich glaube, daß das jetzt mit zum Ausbruch kommt. Gestern habe ich noch die halbhohen Bohnen gehäufelt und Reisig dran getan. Das war aber schon wieder zu viel für mich, denn hinterher habe ich mich überhaupt nicht mehr auf den Füssen halten können. Ich werde vielleicht doch Herrn Steinmehl bitten, mir die Kartoffeln zu häufeln. Ich gebe ihm sehr gern etwas dafür.
Bei meinem Bronchialkatarrh kann es sich vielleicht auch um einen Luftröhrenkatarrh handeln, denn es tut fast bis zum Magen runter weh. Es ist ja schon viel besser geworden, aber richtig tief atmen kann ich immer noch nicht. In der Nacht habe ich meist bis 4 Uhr früh Ruhe. Dann wache ich auf und muß husten. Da ich mich dazu hoch setzen muß und doch immer nachts fest geschwitzt habe, mache ich es immer so, daß ich aufstehe, mich wasche, anziehe und dann die restlichen Stunden im Liegestuhl schlafe. Wenn ich dann husten muß, erkälte ich mich wenigstens nicht noch. Heute Morgen habe ich es so gemacht, daß ich gleich nach dem aufstehen und anziehen mit Salzwasser gegurgelt habe. Da habe ich dann die restlichen Stunden ohne husten schlafen können. Morgen werde ich es wieder so machen. Heute habe ich mich wieder einmal ausgeruht und jede Stunde gegurgelt. Außerdem habe ich mir von der Brust bis zum Hals ein Säckchen mit Zwiebeln aufgelegt, weil das gut sein soll. Vielleicht bringt es Linderung. Schaden kann es auf keinen Fall. Es beißt nur so in die Augen, dass es aussieht. als heule ich. So traurig ist es mir aber nun wieder nicht zu Mute. Ich bin sonst ganz guter Dinge, nur auf meine Schwäche habe ich eine Mordswut. Aber auch da werde ich Geduld lernen müssen. Dich bitte ich aber, lieber Ernst, mach Dir keine Sorge um mich. Ich faulenze eben, bis ich wieder gesund bin. So viel Egoist bin ich nun doch, daß ich mir sage, was nicht geht, bleibt liegen. Jetzt komme ich erst einmal (Bezüglich Egoismus habe ich doch schon ganz schöne Fortschritte gemacht, nicht wahr? Aber Du weißt ja, Unkraut vergeht nicht.)
Vorhin kam gerade das angekündigte Päckchen von Kurt. Es waren verschiedene Sachen drin zum aufheben. Außerdem Drops für die Kinder. Wie er schrieb, bekommen sie sie zugeteilt und er macht sich nichts daraus. Dann schickte er noch Muscheln für die Kinder zum spielen und den Federkasten. Darauf ist eine Madonna mit Kind und dazu steht geschrieben „St. Anne d`Auray“. Dort war oder ist er wahrscheinlich, denn er schrieb von einem Kloster in einem Wallfahrtsort, wo sie untergebracht sind. Wahrscheinlich auch wieder nur vorübergehend. Kurt hat auch eine Dose Ovomaltine mitgeschickt. Er hat zwar nichts davon geschrieben, aber ich denke doch, dass es für uns bestimmt sein wird. Ich könnte es ja jetzt ganz gut brauchen. Das ist doch zur Stärkung.
Es wird nun wieder Zeit, dass ich den Brief schließe, denn Helga ist heute bis um 6 Uhr in der Schule, die kann den Brief nicht fortbringen. So schafft ihn Jörg in die Schneckenburgstraße zum Briefkasten. Der wird 1/2 5 geleert und dann erst wieder morgen früh.
Sei also, mein lieber Schatz, recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

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