Dienstag, 12. Januar 2016

Brief 112 vom 8./9.1.1941


Mein liebster Ernst!                                                                     Konstanz, 8.1.41                   

Eigentlich wollte ich schon gestern Abend mit schreiben anfangen, aber dann kam Vater und bis er ging, war es 1/2 12 Uhr. Da war es zum schreiben zu spät. Er hatte wieder ein paar Brötchen mitgebracht. Ich habe gestern eine Tafel Schokolade gegessen. Ich habe Vater etwas davon angeboten. Als ich sah, daß er sie mit großem Genuß aß, habe ich ihm eine Tafel geschenkt. Er sagte zwar erst, ich solle sie doch behalten, dann hat er sie aber doch gern genommen und ich habe mich darüber gefreut. Er sagte mir, er habe jetzt mal Pralinen gegessen, die er sich gekauft hatte, aber sie hätten ihm nicht geschmeckt. Die Schokolade schmecke schon besser. Ich habe gestern Abend, als Vater erzählte, gleich die Gelegenheit benutzt und Strümpfe gestopft. Ich  habe da ziemlich aufgeräumt. Jetzt will ich dann mit stricken anfangen.
Wenn ich nur erst einmal Nachricht von Dir habe, vorher habe ich noch gar keine Ruhe dazu. Mit der Maschine nähen sollte ich eigentlich auch, aber in die Stube kann ich die Maschine nicht stellen, wenn wir immer drin wohnen und in der Küche ist es mir zu kalt. Da warte ich lieber bis die Kälte nachläßt und man auch mit wenig Heizung die Küche erwärmen kann.
Helga kann jetzt schon so gut Mundharmonika spielen, daß wir verschiedene Lieder zusammen spielen. Sie ist natürlich auch ganz stolz darüber. Jörg hat dafür wenig Interesse.
Unser Tannenbaum steht noch immer frisch da. Nur die Brezeln sind runtergenommen worden. Die sind im Magen verschwunden. Aber die kann man ja auch nicht so lange hängen lassen, die könnten schlecht werden, meinst Du nicht auch?
Eben sehe ich, daß bei beiden Kindern die Naht hinten bei den Schuhen aufgerissen ist. Da werde ich sie gleich einmal zum Schuhmacher schaffen, damit beide dann wieder raus können. Tränen sind ja schon geflossen, daß sie jetzt nicht gleich raus können.
Ich schließe deshalb jetzt. Sei recht recht fest geküßt und gegrüßt von Deiner Annie.


Mein liebster Ernst!                                                    Konstanz, 8.Januar 41      abends

Heute Mittag ist ja der Brief etwas kurz geworden. Ich hatte ihn ja nicht so schnell beenden wollten, aber da sah ich, daß bei Jörg beide und bei Helga ein Schuh hinten an der Naht aufgerissen war. So sollen sie nun nicht rumlaufen. Ich bin dann gleich zum Schuhmacher gefahren und habe die Schuhe auch gleich gemacht bekommen. Der Schuster sagte, wäre schon die Mittelnaht noch aufgerissen gewesen, hätte es länger gedauert und natürlich mehr gekostet. So habe ich für die drei Schuhe 30 Pfennig bezahlt. Die Kinder warteten schon mit Ungeduld als ich heim kam und sind dann gleich noch Schlittenfahren gelaufen. Helga kommt ja dann immer ziemlich trocken heim, aber bei Jörg tropft die Hose, die Strümpfe, die Handschuhe und auch die Schuhe sind durch und durch naß. Ich möchte nur wissen, wie der das immer fertig bringt.
Heute vor einer Woche warst Du den ersten Abend nicht mehr bei uns. Was hab ich seither für Heimweh nach Dir gehabt. Wenn ich nur erst wieder Briefe von Dir bekomme. Ich kann es fast gar nicht erwarten. Bei Tag, wenn noch die Kinder da sind, vertreibe ich mir soweit die Zeit. Da habe ich doch allerhand zu tun und auch unsere beiden Lauser haben viel zu erzählen, aber abends bin ich doch sehr einsam. Ich freue mich schon, wenn Du wieder einmal kommst, wenn es auch noch eine Weile dauert.
Herr Leimenstoll ist heute früh auch wieder fortgefahren. Seine Frau sagte mir, daß er so ungern wieder fort sei. Er ist schon seit Mitte 1939 fort in Polen. Er wäre auch gern wieder bei seiner Familie, besonders da in Konstanz so viele vom Zoll sind, die noch nie fort waren. Ein Kommissar, der auch immer hier war, hat bei diesem Urlaub zu Herrn Leimenstoll gesagt, sie hätten doch dort in Polen den reinsten Erholungsurlaub. Das habe ihn schwer geärgert. Das kann ich mir denken. Du siehst, außer bei Euch auf dem Amt gibt es auch noch anderswo blöde Kerle. Die sitzen hier rum und haben ein dummes Maul.
Nun will ich aber schlafen gehen. Gute Nacht, Du lieber Schatz.

Mein lieber Mann.                                                                                       9. Januar

Ein Brief ist zwar heute auch noch nicht gekommen, aber 1 Päckchen, Nr. 19. Jetzt habe ich also die Päckchen 11, 15, 19, 20 und 21. Da werden sich die anderen auch noch einfinden. Nachdem es heute früh etwas geschneit hat, klärt es sich jetzt ein wenig auf. Die Kinder ziehen sich gerade an, um wieder Schlitten zu fahren.
Ich spiele jetzt öfter mit Helga zusammen Mundharmonika. Erst heute  früh haben wir wieder ein Konzert gegeben. Helga sagte heute, wenn ich selber Musik machen kann, habe ich vielmehr Freude daran. Das ist ja auch recht so. Jetzt scheint seit vielen Tagen zum ersten Mal wieder die Sonne. Da sieht die verschneite Welt gleich noch mal so schön aus.
Ob Du wohl schon Briefe von mir bekommen hast bis heute? Es ist ja immerhin schon eine Woche vergangen, seit ich wieder den ersten weggeschickt habe. Ich hoffe ja auch, daß ich morgen oder spätestens übermorgen etwas von Dir erhalten werde. Meine Male sind übrigens bald ganz verschwunden. Da solltest Du nun da sein.
Nun sende ich Dir für heute recht, recht viele Grüße und Küsse, mein lieber Ernst, Deine Annie.

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