Mittwoch, 6. Januar 2016

Brief 110 vom 4./5.1.1941


Mein liebster Ernst!                                                                               Konstanz, 4.1.41                               

Heute schreibe ich Dir gleich am Morgen, da ich nachher Lebensmittelkarten holen gehe. Da nehme ich den Brief mit. Ich kann noch gar nicht gut schreiben, da ich vom Wäscheaufhängen ganz steife Finger habe. Es ist wieder ziemlich kalt geworden, auch windig. Die Milch, die ich am Fenster stehen hatte, war am Morgen mit einer dicken Eisschicht bedeckt. Der Winter geht also doch nicht so schnell vorbei. Es ist da gut, daß wir unsere warme Stube haben.
Als ich gestern Abend den Brief an Dich fortbringen wollte, kam gerade der Briefträger vorbei, der die Briefkästen leert. Dem konnte ich  den Brief gleich mitgeben. So ist er wenigstens gestern noch fortgekommen.
Helga spielt jetzt den ganzen Tag Mundharmonika und hat schon gute Fortschritte gemacht. Sie ist auch ganz stolz darauf. Jörg hat den ganzen Tag genug mit seinen Soldaten zu tun. Ich schicke Dir heute einen Artikel mit, der Dich vielleicht interessiert. Du hast ja von der Frau Dr. Firnhaber nie viel gehalten. Dieser Artikel gibt Dir wieder einmal recht.
Heute oder morgen werde ich mich mal hinsetzen und alle Briefe beantworten, die zu Weihnachten eingegangen sind. Viel Lust habe ich ja nicht dazu, aber es muß eben sein.
Mein lieber Ernst! Ich träume jetzt jede Nacht von Dir und es ist immer eine große Enttäuschung, wenn ich aufwache und Du bist nicht hier. Es war doch so schön, als Du bei uns warst. Auch der Spaziergang auf den Tabor war doch fein. Es waren überhaupt alles schöne Tage.
Nun muß ich leider schon schließen, sonst bekomme ich meine Karten nicht mehr. Du wirst es mir nicht übel nehmen, daß ich den Brief nicht heute Nachmittag fertig schreibe und extra wegschaffe. Du weißt ja, wie leicht ich friere und froh bin, in der Wärme zu sein. Von der Wäsche bin ich sowieso schon ziemlich durchgekühlt. Nun grüße und küsse ich Dich recht herzlich, mein lieber Schatz, wenn auch nur im Geist und denke immer a n Dich Deine Annie.


Mein lieber Ernst!                                                                           Konstanz, 4.1.41 abends                                                                                               
Vor 14 Tagen warst Du den ersten Abend da. Dieser und die darauf folgende Abende waren schöner als der heutige. Heute sitze ich wieder ganz allein hier und habe große Sehnsucht nach Dir. Ich muß Dir deshalb noch schreiben und wenn es nur ein paar Zeilen sind.
Hoffentlich schicken die Eltern bald wieder Zeitungen, damit ich lesen kann. Ich habe die letzten Abende gestopft und ausgebessert. Aber das ist nichts. Dabei kann man so viel nachdenken.
Päckchen sind heute wieder keine gekommen. Ich möchte nur wissen, wo die stecken.
Übrigens, das wird Dich auch interessieren. Der Mann vom Taborweg, der Gasableser, den Du schon öfter mit einem Rausch gesehen hast, hat sich gestern Nacht an der Türklinke aufgehängt. Wahrscheinlich auch im Rausch. Wie Herr Weber sagt, hatte er auch eine Kriegsverletzung, durch die er eine ganze Weile die Sprache verloren hat. Seitdem soll er ein bißchen nicht ganz recht gewesen sein.
In meinem heutigen Brief habe ich vergessen, den Zeitungsartikel beizufügen. Ich lege ihn nun diesem Brief bei.
Ich habe nun noch eine Mundharmonika bei der Firma Lemper gekauft. Diese hat ganz tiefe und hohe Töne, so daß es bei den Liedern nicht hapert. Helga hat nun meine andere bekommen. Sie spielt jetzt schon ziemlich viele Lieder drauf. Ich muß direkt staunen, wie schnell sie er lernt. Mein lieber Ernst, was wirst Du jetzt machen?
Es ist gleich 1/4 10 Uhr. Du hast ja diese Woche Deine Kameraden noch nicht dort. Du wirst sicher froh sein, wenn wenigstens einer von Beiden wieder kommt. Bleib mir nur gesund, mein lieber, lieber Mann, damit Du später wieder gesund nach Hause kommst. Schlaf gut und wach gesund wieder auf.

Mein lieber Ernst!                                                                                5.Januar

Am vergangenen Sonntag sind wir noch mit Dir auf den Tabor gegangen, nun bist Du schon wieder 1/2 Woche fort. Ich schicke heute die Kinder mit dem Brief in die Stadt und höre mir das Wunschkonzert an in der Hoffnung, daß Du vielleicht dasselbe hörst. Die Kinder freuen sich schon sehr, daß sie in die Stadt dürfen, vor allen Dingen auch deshalb, weil sie auch einen Brief an Dich geschrieben haben. Den bringen sie doch am liebsten selber fort.
Wir sitzen heute wieder in der Stube. Nachdem ich 2 Tage in der Küche kein Feuer gemacht hatte, waren heute früh nur 5 Grad Wärme drin. Da habe ich heute mal ein bißchen geheizt. Es sind aber doch nur 13 Grad Wärme. Da ist es in der Stube gemütlicher. Nur Du fehlst eben sehr. So sitze ich eben doch allein da. Wenn Du Dir das Wunschkonzert anhörst, bist Du ja auch allein. Aber meine Gedanken sind bei Dir.
Ich habe mir nochmals das Buch „Der Indio“, das wir Kurt geschenkt haben, rausgesucht und lese es noch mal. Es ist immer wieder interessant. So wird dieser Sonntag auch vergehen. In der kommenden Woche werde ich ja nun sicher auch Nachricht von Dir bekommen. Darauf freue ich mich schon.
Sei nun für heute recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

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