Donnerstag, 23. März 2017

Brief 295 vom 21.03.1942


Mein liebster Ernst !                                                                                                                  Konstanz, 21.3.42

Auf Deinen lieben Brief vom 16. habe ich dir ja heute Mittag geschrieben. Ich habe mir nun überlegt, dass es dich doch vielleicht interessieren wird, wie der Besuch von Siegfried so verlaufen ist. Darum will ich Dir noch davon berichten. Von der Ankunft hatte ich dir ja geschrieben, auch davon, dass er verschiedenes mitgebracht hat. Erwähnt hatte ich noch nicht, dass noch Briefpapier mit Umschlägen, eine große Tube Klorodent-Zahnpasta und 9 gute Zigarren für Vater dabei waren. Siegfried sagte auch, dass er zum essen immer noch genug nach hause schickt und dass sie keine Not bisher leiden mussten. Siegfried meinte zu dem Kaffee, den er mitgebracht hat, es ei ja zwar nicht so viel, wie jetzt vielleicht mitgebracht hast, aber er hofft, dass es mich freut. Ich sagte ihm, dass es bei dir keinen mehr geben würde. Siegfried sagte dann, dass sein Kamerad für ein Pfund Kaffee schon 40.-Mk. bekommen habe. Siegfried sagte auch, dass er, wenn er für jemand was besorgt, immer einge Mark aufschlägt, denn die wären ja froh, wenn sie was bekommen.
Ich habe Siegfried von dem Cognac, den ich für Vater immer da habe, angeboten und er war ganz begeistert davon. Er erzählte, dass er sich, als er krank war, mit Cognac und Aspirintabletten geheilt habe.
Gestern Abend nach dem Kino haben wir noch zusammen gesessen und uns von Mama unterhalten. Dann sind wir schlafen gegangen. Die Kinder haben in deinem Bett zusammen geschlafen, so dass Siegfried das Kinderzimmer für sich hatte.
Da heute früh bei Helga Handarbeiten ausfiel, hatte sie erst um 11:00 Uhr Schule. Wir sind dann alle mit meinem Bruder um 8:56 Uhr in die Stadt gefahren, wo der Schnellzug schon bereit stand und er einen schönen Platz bekam. Um 9:28 Uhr fuhr er dann fort und wir sind zum Arzt gegangen, wo wir die ersten waren und um 10:00 gleich dran kamen. Jörg wurde nun untersucht. Der Arzt sagte, Jörg habe wohl eine schwache Rachitis gehabt, denn der Brustkasten sei etwas eng. Ich fragte ihn, ob das nicht Vererbung sein könnte, da du doch eine leichte Rachitis als Kind hattest, die dieselben Merkmale aufweist. Er bejahte dies, meinte aber, das habe nichts zu bedeuten, denn der ganze Organismus sei bei Jörg prachtvoll entwickelt und er sähe sehr gut aus. Länge und Gewicht stimmten auch miteinander, nur sei beides dasjenige eines 9½jährigen. Ich sagte ihn, dass Jörg manchmal so huste. Er meinte, das sei nur ein Hustenreiz, an der Lunge habe er nichts. Ich sagte ihm, dass ich ihn auch habe röntgen lassen. „Aber ohne Ergebnis, nicht war?“ meinte der Arzt, „man hört auc kein Geräusch an der Lunge.“ Er hat ihm aber doch noch eine Salbe eingerieben und am Dienstag müssen wir nochmals hinkommen zum nachsehen.
Nachdem wir beim Arzt waren, sind Helga und Jörg gleich zur Schule gegangen und ich heim, wo ich dann deinen lieben Brief vorfand.
Gestern wollte ich mit den Kindern in die Märchenfilme gehen, die nun gespielt werden. Da Siegfried kam, hatte ich es ihnen für heute versprochen. Als ich nun heute las, dass du schon so bald nach Russland kommen sollst, hatte ich gar keine Freude mehr daran und wäre am liebsten nicht gegangen. Dann dachte ich an dich, was du wohl dazu sagen würdest. Ich meinte dann, du wolltest wohl nicht, dass ihnen ihre große Freude verdorben würde. Ich bin dann also mit ihnen gegangen, und den Kindern hat es so gut gefallen, dass sie laut gejubelt haben. Auch als der Kasper kam, haben sie mitgemacht, wie alle andern Kinder auch. Es wurde „Häwelmann“, “Sterntaler“, “Der süße Brei“ und „Kasper bei den Wilden“ gespielt. Ich muss sagen, dass alles sehr schön gemacht worden war. Nach dem Kino sind wir gleich heim. Ich hatte im Haus und bei Webers Bescheid gegeben, wo wir sind, wenn angerufen würde oder sonst irgendetwas sei. Dabei dachte ich an dich, wenn du ja gestern schon dort fortgefahren wärst und von irgendwoher anrufen oder telegrafieren würdest. Ich war dann auch erst ruhig, als ich daheim war.
Siegfried hat mir viel von Russland erzählt. Erst war doch unsere Front ziemlich ausgebuchtet und wurde dann ausgeglichen. Da hatten manche einen Rückzugsweg von 150 bis 200 Km. Für die war der Rückzug eine Qual. Es war inzwischen schon kalt geworden, da haben viele Erfrierungen davongetragen, die später amputiert werden mussten. Und viel Material haben wir selber vernichtet, denn als die Russen merkten, dass wir zurück gingen, sind sie natürlich sofort nachgestoßen.
Siegfried hat noch viele andere Sachen erzählt, die man aber gar nicht schreiben kann. Nur das eine noch. Von dem Rückmarsch war auch ein Verwundeter bei Siegfried, der konnte es nicht glauben, dass sie tatsächlich in die Heimat kämen. Als Siegfried sagte: “So Kamerad, nun geht es in die Heimat“, meinte der: „Das könne sie mir nicht vormachen. Vielleicht bringt ihr uns noch weiter hinter die Front, aber in die Heimat, nein, das glaub ich nicht. 50.-Mk gebe ich dir, wenn das wahr ist.“ Siegfried sagte ihm, dass er die bestimmt verliert. „Das macht nichts, wenn ich tatsächlich in die Heimat komme, ist mir das gleich.“ Sie haben dann ausgemacht, dass sie´s in eine Kasse zahlen wollen, denn Siegfried wollte sich nicht bereichern. Trotzdem Siegfried den Soldaten aus den Augen verlor, hat dieser sich beim Transportführer gemeldet und 50.-Mk. gezahlt. Da sieht man erst, was den Soldaten die Heimat bedeutet.
Nun wollte ich dir noch etwas schreiben. Ernst, nicht wahr, vergiß nicht, was ich dir schon daheim gesagt habe. Wenn Du nach Osten kommst, und es fehlt dir was, so schreibe es bestimmt. Für dich ist immer etwas da. Ich könnte nicht mehr in Ruhe essen, wenn ich wüsste, u schreibst es nicht, wenn dir was fehlt, sei es nun Brot, Butter, Zucker oder sonst irgendetwas. Wir gehören doch zusammen, und so teilen wir auch zusammen. Nun laß mich schließen. Ich schicke dir noch eine Mark mit, die mir Siegfried gab und die ich ja nicht verwenden kann. Sei recht herzlich gegrüßt und geküsst von Deiner Annie.

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