Sonntag, 13. September 2015

Brief 62 vom 10./11.9.1940


Mein lieber Ernst!                                             Konstanz,. 10.Sept.40

Heute kam Dein lieber Brief vom 5.September. Ich muß ja schon sagen, Du bist ein ganz, ganz böser Kerl, mich so wegen meiner Gewissensbisse bezüglich des Briefes zum Hochzeitstag aufzuziehen. Aber glücklich bin ich doch, daß Du mir´s nicht übel genommen hast.
Ich bin heute sehr spät zum schreiben gekommen, denn ich habe Marmelade gekocht und ein paar Tomaten eingelegt. Da geht die Zeit so herum. Nun kommt Helga bald aus der Schule, sie hat bis ½ 6 Uhr Unterricht. Da wollen wir dann gleich essen, hinterher muß sie die Augen wärmen und dann wird es Schlafenszeit sei.
Mal sehen, ob ich noch zum Brief wegschaffen komme. Evtl. nehme ich ihn morgen früh gleich mit in die Stadt. Es regnet heute wieder, was vom Himmel runter will. Heute früh kam Helga schon mit nassen Füßen aus der Schule. Ich habe sie am Nachmittag gleich mal mit dem Omnibus fahren lassen, damit sie nicht dreiStunden lang mit nassen Füßen in der Schule sitzen muß. Sie hat heute Handarbeiten. Zu hause hat sie das häkeln schon ein bißchen geübt, damit sie sich nicht so dumm anstellt. Daß es nun gleich tadellos geht, kann man ja schließlich nicht erwarten. Sie ist heute ganz stolz mit ihrem neuen Handarbeitskorb in die Schule gegangen. 
Von Kurt haben wir bisher immer noch nichts gehört. Hat er Dir schon mal geschrieben? Vater dachte, er würde vielleicht an meinem Geburtstag schreiben, aber es ist nichts gekommen.
Leider ist Dein Brief einen Tag zu spät angekommen, denn gerade gestern habe ich Zeitungen an Dich weggeschickt. Aber das ist ja nicht schlimm. 
Bezüglich der Engländer kann man nur sagen, daß sie ein ganz gemeines Volk sind. Bei uns bombardieren sie die Zivilbevölkerung, wenn es  i h n e n  aber mal an den Kragen geht, da gehen sie in der ganzen Welt um Mitleid hausieren.  Auf die Engländer haben wir alle einen großen Haß. Sie bekommen es ja jetzt zu spüren, daß wir nichts ungestraft lassen.
Vielleicht schreibe ich heute Abend noch an die Eltern, damit sie nicht beleidigt  sind. Auch an die Erna sollte ich mal schreiben, ich weiß bloß nicht was.  Ich hätte bald vergessen, Dir für die Bilder zu danken. Diese haben mich sehr interessiert. Man sieht darauf auch wieder, wie alles zerstört ist. Da ist man froh, wenn man nicht im Kriegsgebiet wohnt. Kannst Du nicht einmal ein Bild von dem Haus machen, in dem Du wohnst?

                                                                             11. September    

 Nun habe ich den Brief doch nicht weggeschafft. Du wirst mir deshalb nicht böse sein. Ich habe mich gestern Abend noch hingesetzt und verschiedene Briefe geschrieben. Die Durchschläge schicke ich Dir mit. Der Brief an Erna gefällt mir nicht so gut, aber was soll ich schon schreiben, ich kenne sie ja gar nicht.
Bei dem Brief an meine Eltern habe ich bei den Geburtstagsgeschenken von Dir nur Wolle für einen Pullover geschrieben. Ich möchte die anderen Geschenke von Dir nicht gern erwähnen, denn Du weißt, vor allen Dingen Papa wird gern ein bißchen neidisch und im übrigen, D u  weißt ja, wie sehr ich mich über alles gefreut habe. 
In dem Zeitungspaket von den Eltern waren Plaketten dabei, weißes und buntes Einfaßband bzw. Wäscheband, eine noch ziemlich gute dunkelblaue Bluse und eine Bluse von mir früher, wo aber die Motten drin waren; davon mache ich noch ein paar Puppenkleider. Ich hatte das in meinem Brief an Dich nicht erst erwähnt, weil es ja nichts Wichtiges war. Ich schreibe es heute nur, damit Du weißt, um was es sich handelt, wenn Du den Brief an die Eltern liest. 
½ 11 Uhr.     Soeben kam der Briefträger und brachte mir zwei Päckchen von Dir, eines mit Stoff und eins mit zwei Schürzen, Kaffee und Schokolade. Soll der Stoff für ein Kleid für mich sein? Er gefällt mir sehr gut. Ebenso die Schürzen. Die passen mir prima. Auch für den Kaffee und die Schokolade danke ich Dir.
Jörg ist gerade dabei, sich schon ein bißchen zu reiben, weil er so die bittere Schokolade nicht mag.  Eben sehe ich beim Durchlesen, daß ich mich ja noch gar nicht für die schönen Sachen bedankt habe.
Also, lieber Ernst, Du bist so ein lieber, lieber Kerl. Ich habe mich über alles sehr gefreut und möchte Dir recht, recht sehr danken.  Du siehst doch immer zu, daß Du mir viel Freude machst. Ich schaue mir die schönen Sachen immer wieder an. Ernst, Ernst, Du verwöhnst mich zu sehr. Du wirst es sehen, wenn Du einmal heimkommst, wie sehr ich verwöhnt bin. 
Heute regnet es immer noch sehr. Ich fahre nun gleich in die Stadt und schaffe auch den Brief gleich fort.  Sei mir bitte nicht böse, daß ich einen Tag nicht geschrieben habe. 
Nun, lieber Ernst, sei recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.


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