Sonntag, 6. September 2015

Brief 59 vom 5./6.9.1940


Mein lieber Ernst!                                            Konstanz, 5.Sept. 40.

 Heute ist nun Helga‘s Geburtstag. Sie hat an ihren Geschenken große Freude. Von Siegfried ist eine Karte und RM 2,- gekommen, von Vater hat sie 2,50 erhalten und die Eltern haben geschrieben, daß sie am 3.9. ein Zeitungspaket weggeschickt haben und daß darin auch etwas für Helga ist.
Ganz glücklich ist der Tag nicht verlaufen, denn Helga hat heute früh ein mächtig entzündetes Auge gehabt, so daß ich sie nicht in die Schule gelassen habe. Auch Jörg‘s Auge ist wieder entzündet und beide müssen jetzt fest Kamillenumschläge machen. Ich glaube, das kommt daher, weil sie dauernd in dem zugigen Hausflur rein und raus rennen. Aber Du weißt ja, da kann man reden was man will, immer müssen sie mal das, mal jenes Spielzeug holen. Na, wir werden schon sehen, daß wir‘s so bald als möglich wieder weg bekommen. 
Die Geburtstagfreude selbst ist ja bei Helga nicht getrübt, im Gegenteil, da sie nun nicht in die Schule muß, kann sie den ganzen Tag bei ihren Sachen sein. 
Lieber Ernst! Heute ist Dein zweites Päckchen mit Wolle gekommen. Die ist aber schön, die gefällt mir auch ausgezeichnet. Recht vielen, vielen Dank. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Einen Brief habe ich heute nicht erhalten, aber am Sonntag, als Du in Gent warst, wirst Du ja keinen geschrieben haben und den Brief vom 31.8. habe ich ja gestern erhalten. 
Die Kinder haben mir auch schon etwas zum Geburtstag gekauft. Ich habe mir etwas wünschen dürfen. Sie haben mir nun von ihrem Geld ein Einkaufsnetz und vier Bügel gekauft. Das Netz habe ich gut brauchen können, nachdem ich ja das andere schon seit langer Zeit nur für Kartoffeln verwende und die Bügel habe ich benötigt, da ich ja jetzt ziemlich viele neue Sachen habe. Die Kinder wollen mir am Samstag selber einen Geburtstagstisch aufbauen. Ich freue mich sehr über ihren Eifer. 
Es ist heute wieder sehr heiß und nachdem ich gebügelt habe, ist in der Küche eine große Hitze, direkt ungemütlich.
Gestern habe ich noch die 6 oberen Reihen Erdbeeren umgegraben. Der gesäte Spinat und Salat kommt schon raus. Es ist ja auch noch warmes Wetter. 5 Pfund Äpfel haben wir wieder aufgelesen. 
Vater hat wieder jeden Tag nach Mottenmaden gesucht und hat schon ein paar Tausend hingemacht. Gestern hat er mal das eine Unterbettkissen im Bett von Kurt aufgemacht, (denn in dem Bett sind die Maden alle gewesen) da hat es direkt drin gewimmelt. Jetzt hat er das ganze Kissen genommen und hat‘s überbrüht. Vielleicht bekommt er jetzt Ruhe. 
Nachdem es schon wieder ¾ 5 Uhr ist will ich schließen.
Sei für heute wieder recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

Mein lieber Mann !                                              Konstanz, 6.Sept. 40. 

Heute erhielt ich Deinen lieben Brief vom 2.Sept. über den ich mich wieder sehr gefreut habe.
Daß Du Dir Deinen Ärger über Deine Kollegen von der Seele geschrieben hast, schadet gar nicht. Ich habe mich damals auch sehr geärgert z.B.  wenn der M. erzählt, die Soldaten hätten vielmals gar nicht kämpfen brauchen, die Franzosen wären mit erhobenen Händen  angesprungen gekommen, dadurch hätten viele Kompanien gar keine Verluste. Meines Erachtens rühren unsere verhältnismäßig geringen Verluste von unserer neuen Kampfesweise her und von unseren vorzüglichen Waffen.
Ach weißt Du, die haben noch viel so Blödsinn erzählt. Man ärgert sich ganz unnötig, solche Kaffern sind doch nicht zu belehren. Ja, weißt Du, wenn man noch die saudummen Gesichter dazu sieht. Jedenfalls haben unsere Soldaten Großartiges geleistet und die haben inzwischen zu hause gesessen. Das wäre ja nicht schlimm, wenn sie dann ihren Mund halten würden. Na, Schluß damit. Wegen mir brauchst Du Dir keine Sorge zu machen, ich lasse mich durch dummes Geschwätz nicht beeinflussen. Daß ich Dir Vertrauen entgegenbringe, ist doch selbstverständlich, denn Du bist doch mein Mann und ich habe Dich lieb. Was die Leute da reden ist mir gleich. Ich weiß ja, daß Du nie lügst und wenn Du uns nicht lieb hättest, würdest Du mir auch nicht so liebe Briefe schreiben.  Dein Bericht hat mich wieder sehr gefreut. Da hast Du doch unseren Hochzeitstag gut verbracht, denn Du schreibst ja, daß dies einer Deiner schönsten Nachmittage dort war. 
Gestern abend war Vater da. Ich habe ihm Deine Briefe vorgelesen. Da sind wir dann auch an die Stelle gekommen, wo mein Vater geschrieben hat, Du solltest ihm Kaffee schicken. Da haben wir uns dann von meinen Eltern unterhalten und wie wir hier her gekommen sind usw. Da hat Vater dann zu mir gesagt: “Nicht, das hättest Du früher auch mal nicht gedacht, daß wir uns noch so gut verstehen würden?“ Dann hat er sich gewissermaßen entschuldigt, daß er erst nicht ganz mit mir einverstanden war.
Ich muß sagen, Ernst, ich habe mich sehr darüber gefreut, daß ich jetzt doch sehe, daß er nichts mehr gegen mich hat und daß ich richtig zur Familie gerechnet werde. Ich muß übrigens sagen, daß Vater wirklich alles tut, was in seinen Kräften steht. Er kommt öfter mal rauf und unterhält sich mit mir, damit ich nicht ganz allein sein soll. Ich hatte jetzt oben am Rücken, wo die Schulterblätter anfangen, gerade am Rückgrat ein Geschwür. Das war sehr schmerzhaft und ich habe gar nichts machen können, weil ich es nur durch den Spiegel sehen konnte. Da hat er sich auch erboten, es aufzumachen, trotzdem das ja gerade nichts Schönes ist.
Vorgestern hat er mich ziemlich quälen müssen. Etwas Eiter war noch drin, da haben wir noch ein Zugpflaster drauf gemacht und gestern Abend hat er alles raus gebracht. Das war ein ziemliches Loch. Er hat die Wunde nie so mit den Händen berührt, sondern immer nur mit Mulläppchen. 
Heute war ich auch mit den Kindern bei Dr. Plocher wegen den Augen. Bei Helga gibt es wieder ein Gerstenkorn. Sie hat Salbe verschrieben bekommen und Abends muß sie eine Stunde warme Umschläge machen. Bei Jörg hat man das wilde Fleisch rausgeschnitten. Da muß ich abends auch Salbe mit einem Glasspachtel einschmieren. Der Doktor sagt, es kann sein, daß man´s nochmals wegschneiden muß, wenn es wieder nachwächst.
Nun muß ich Dir auch noch schreiben, wie wir gelobt worden sind. Dr. Plocher hat gesagt, er müßte mir zu meinen Kindern gratulieren, so verständig und brav seien sie, sie hätten nicht geschrien und der Bub hätte nicht einmal gezuckt, als er geschnitten wurde. (Das Auge war örtlich betäubt, aber trotzdem stellen sich Kinder manchmal schlimm an). Den Kindern wäre aber auch zu ihrer Mutter zu gratulieren, denn ich hätte überall zugesehen, es gäbe viele Frauen, wenn er zu denen sagte, sie sollten die Kinder auf den Schoß nehmen und zusehen, wenn sie geschnitten werden, so wehrten sie sich und sagte, so etwas können sie nicht sehen. (Gegen damals, als Helga genäht wurde, war es aber gar nicht schlimm anzusehen.)
Ich bin aber der Meinung, man soll auch Dingen, die nicht so ganz leicht sind, nicht feige aus dem Weg gehen, sondern sehen, ob man´s nicht schaffen kann. Eigentlich ist es ja nicht ganz recht, daß ich Dir das Lob über mich auch mitgeschrieben habe.
Heute haben Helga und ich zum Geburtstag eine Glückwunschkarte von Erna bekommen. Ich soll Dich auch grüßen.
Früh morgens haben wir schon öfter dicken Nebel. Tagsüber hellt es sich dann aber meist auf und es wird sehr warm. Ich muß jetzt jeden Tag auf Raupenjagd gehen, sonst fressen einen die Viecher kahl. Aber schöne Köpfe Weißkraut hat es schon.  Prima. Das gibt Sauerkraut.  Nun habe ich heute aber viel geschrieben, nicht wahr? Nun ist aber auch Schluß.
Sei Du, mein lieber Ernst, recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

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