Samstag, 7. Januar 2017

Brief 268 vom 6.1.1942


Mein liebster Ernst!                                                                  Konstanz, 6.1.42              

Seit gestern Vormittag habe ich nicht mehr an Dich geschrieben und heute ist es auch Abend geworden. Da wird es bald Zeit, daß ich mich zu einem Brief hinsetze.
Einen Brief habe ich gestern und heute nicht von Dir bekommen. Dagegen kamen die Päckchen 48, 49, 50 mit Seife. Das sind aber schöne Stücke, dafür möchte ich Dir sehr danken. Nun möchte ich Dir von unserem Tageslauf berichten. Gestern war ich mit den Kindern in der Stadt. Ich habe allerhand besorgt. Sogar Klopapier habe ich wieder mal erwischt, während Briefumschläge, die ich auch bald wieder brauche, nicht zu haben waren. Auch mit etlichen anderen Sachen bin ich auf später vertröstet worden. Man muß sich nur das Nachfragen nicht verdrießen lassen, einmal klappt´s doch.
Auf dem Heimweg kamen wir an der Rheingasse vorbei. Da war in dem großen Eckhaus gegenüber der Lesehalle ein Kellerbrand ausgebrochen. Die Feuerwehr war da, da haben wir eine Weile zugesehen. Wie heute in der Zeitung stand, ist ein Mädchen mit offenem Licht in den Keller gegangen und das Stroh  auf einer Apfelhorde hat Feuer gefangen.
Ich hatte gestern für Vater ein Brot mitgebracht. Das haben wir ihm ins Geschäft gebracht.  Es ist nämlich gestern ganz plötzlich ein Wetterwechsel eingetreten und es fing an mit regnen. Da wollten wir ihm den Weg zu uns herauf abnehmen. Es hat noch die ganze Nacht und heute Vormittag geregnet, während es heute Nachmittag und auch jetzt noch schneit. Du kannst Dir sicher den Matsch vorstellen. Dem halten keine Schuhe stand.
Heute sind nun die Kinder zum ersten und auch gleich wieder zum letzten Mal zur Schule gegangen. Wegen der Wollsammlung haben sie bis zum Montag noch Ferien. In der Schule liegen doch die ganzen Sachen. Da werden wir also auch in den kommenden Tagen solange im Bett bleiben, bis wir kein Licht mehr brauchen.  Wir sind doch Faulenzer, nicht wahr?
Heute Mittag kam Vater und brachte 2 kleine Stollen, die ich für Kurt einpacken und fortschaffen sollte. Das habe ich heute Nachmittag auch getan. Da war ich froh, daß ich mit dem Rad fahren konnte. Der Matsch ist nur so rumgespritzt und es ist dann ein schönes Gefühl, wenn man mit dem Rad gewissermaßen darüber schwebt.
Als ich heim kam, habe ich noch das Waschhaus und die Treppe geputzt. Dann habe ich mir mal den Klappstuhl, den Vater gemacht hat, vorgenommen. Ich habe ihn mit einem blau/weißen Stoff einstweilen bezogen.  Wenn wir später mal anderen haben, kann man ihn ja abmachen. Kaum hatte ich ihn fertig, also den Stuhl, da haben ihn schon die Kinder für ihre Puppen „organisiert“.  Das ist nun gleich ein Puppenbett.
Von Papa erhielt ich heute einen Brief mit Bildern von Siegfrieds Hochzeit und einem Gedicht, das ich Dir abschreibe.
Findest du Papa auch so schlecht aussehend. Als wir in den Ferien dort waren, sah er viel besser aus, aber Mamas Tod hat ihn doch sehr mitgenommen.
Von Alfred Seifert kam auch eine Karte. Ich schicke sie Dir auch mit. Ob der Name „Lilly“ ein Mädchen von ihnen ist?
Ich weiß nicht, ob Dich das Gedicht von Papa so berührt wie mich. Ich habe heulen müssen. Das kommt auch daher, daß der Schmerz noch so frisch ist. Du glaubst gar nicht, wie oft ich von Mama träume. Immer frage ich sie „ja, bist Du denn nicht gestorben“ und immer sagt sie „das ist ja gar nicht wahr“ oder „davon wollen wir nicht reden“, daß doch eine Mutter auch sterben kann. Wie oft habe ich schon an Euch denken müssen, wie schwer es Euch gewesen sein muß, als Eure Mutter starb. Das habe ich früher nicht so empfunden. So lernt man auch durch Schmerz.
Lieber Ernst, meinst Du, es wird wahr, daß Du noch diesen Monat auf Urlaub kommen kannst? Wir würden uns ja so freuen. Vielleicht dauert es doch nicht mehr so lange.
Sei nun für heute wieder recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Anni.
Ich habe gerade das Gedicht abgeschrieben. Vielleicht, meine ich, wirst Du manches eigenartig finden. Aber es war früher so, daß Papa dichtete, wenn er sehr froh war und jetzt tut er es vielleicht, wenn er traurig ist. Ich glaube, daß Papa die Mama doch sehr vermißt. Ich habe ja Dich und die Kinder, aber Papa ist doch eigentlich mehr allein. Siegfried ist ja nun glücklich, daß er jung verheiratet ist und Erna ist ja trotz aller Liebe nicht das eigene Kind. So tut mir Papa eigentlich immer leid.
Nochmals viele, viele Grüße und Küsse von Deiner Anni.

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