Mittwoch, 21. Oktober 2015

Brief 72 vom 16./17.10.1940


Mein lieber, lieber Ernst!                            Konstanz, 16. Oktober 1940 

Es ist jetzt ¾ 7 Uhr. Wir haben eben Abendbrot gegessen, nachdem wir um 6 Uhr nach hause gekommen sind. Ach Ernst, ich meine immer, es kann gar nicht möglich sein, daß Du fort bist. Du fehlst uns ja überall so sehr. Ich beiße fest die Zähne zusammen, denn ich will Deine tapfere Frau sein. Aber es ist so sehr schwer.
Ernst, mein Ernst! Meine Gedanken sind immer bei Dir, wie meine Seele, und mein Herz tut mir weh, weil es nicht so davon fliegen kann, trotzdem es allein Dir gehört. Mein lieber Ernst, wie ist es möglich, daß Du wieder von uns fort mußt. Trotz des schweren, schweren Abschieds bin ich doch so froh, daß Du bei uns warst. Es waren so wunderschöne Tage. Ich möchte sie nicht missen. Nie und nimmer.
Ich habe Deine lieben Bilder von Köln vor mir liegen und schaue sie mir immer wieder an. Dein liebes Gesicht, Dein liebes Lächeln. Wer ist so lieb wie Du, mein lieber, lieber Ernst? Ich denke immer an Dich, wo Du jetzt sein wirst. 
Lieber Lieber, lieber, lieber Vater! Ich bin heute sehr traurig, weilst Du der liebste  von der Welt bist. Du wirst auch traurig sein, weißt Du, wenn man fort ist. Und weißt Du noch, voriges Mal, waren wir noch zusammen, am Abend. Viele Grüße und Küsse von Deiner Helga. 
Jörg: Ich habe Dir schönes Bild gemalt.
Helga wollte auch noch was schreiben, ehe sie schlafen ging. Sie ist wirklich sehr traurig. Jörg fing dann an zu weinen und sagte: „Ihr könnt alle beide etwas schreiben, bloß ich nicht, ich kann bloß malen.“
Ich habe ihm dann vorschreiben sollen, ich habe Dir ein schönes Bild gemalt. Er hat es dann mit vieler Mühe nachgeschrieben. Das „ein“ hat er vergessen, aber ich glaube, es wird Dich auch so freuen. 
Ich bleibe noch munter, bis Du von Stuttgart abfährst, dann gehe ich gleich schlafen, wie Du es mir gesagt hast, mein lieber, lieber Ernst. Ich habe mir eine Karte hervor geholt, auf der ich Deine Fahrt bis Lille verfolgen kann.  21,04 Uhr: Mein lieber Ernst! Nun bist Du in Stuttgart. Jetzt warte ich noch, bis Du abfährst. Wenn Du doch wieder zu uns zurück kämst. 
21,25 Uhr Jetzt fährst Du gleich von Stuttgart fort und ich gehe nun schlafen. Auf ½ 5 Uhr stelle ich mir den Wecker, da Du 4 ,32 in Köln bist. Bleib mir nur gesund Du mein lieber, lieber Ernst.

 17.10.     7,25  Uhr: Mein lieber Ernst!

Jetzt wirst du also in Maastricht sein. Heute Nacht bin ich aufgewacht, als Du in Köln warst. Auch vorher bin ich einige Male munter geworden und habe immer an Dich gedacht.  Nun ist es ¼ 1 Uhr und Du wirst nach Lille weiter fahren. Du bist sicher auch froh, wenn Du die Bahnfahrt hinter Dir hast.  Helga sagte heute früh, sie will ganz fleißig sein, weil Du ihr‘s gesagt hast. Nun soll ich Dir schreiben, daß sie heute einen Fleißstrich im Diktat bekommen hat. 
Als Du da warst, habe ich ja auch eigentlich Urlaub gehabt. Nun fange ich wieder an mit schaffen. Heute habe ich einen Teil gewaschen. Vor allen Dingen die schönen Sachen, die ich aufhebe, bis Du wieder kommst.  Nachmittags wollen wir noch zum Doktor gehen und den Brief ins Amt bringen.  Die Bilder, die wir aufgenommen haben, bekomme ich morgen. Ich schicke sie Dir dann gleich.  Hoffentlich sind sie gut geworden.  Die zwei Äpfel, die Du mir noch gepflückt hast, hebe ich mir solange als möglich auf, denn sie sind doch von Dir.  Bei Jörg ist am Finger die feste Haut von der Wunde weggegangen. Darunter ist aber noch Eiter. Jetzt habe ich noch ein Zugpflaster drauf gemacht. Er zieht den Eiter schon ein bißchen hoch. Mal sehen, wie es morgen aussieht. 
Es ist nun inzwischen ½ 3 Uhr geworden. Ich will mich jetzt fertig machen, damit wir fortkommen. Vorgestern sind wir noch mit Dir zusammen in der Stadt gewesen. Das war viel schöner als heute.  Nun will ich schließen. Vielleicht erhältst Du den Brief bald.  Sei recht oft und herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.


 Mein lieber, lieber Ernst!         Konstanz, 17.Okt. 40.  Es ist jetzt gleich ½ 8 Uhr abends.

Wahrscheinlich wirst Du nun bald in Lille sein. Schon wieder ist ein Tag vorbei, seit Du fort bist. Ich denke immer an Dich. Die Kinder haben den Abschied schon ein bißchen überwunden, deswegen denken sie natürlich auch viel an Dich. Mir tut es aber noch sehr weh, daß Du fort bist. Ich kann es immer noch nicht begreifen, daß es Wahrheit ist. Die ganze Wohnung kommt mir so leer vor. 
Ich habe heute Abend noch einmal nachgefragt, ob ich die Bilder nicht bekommen kann und habe sie tatsächlich um 7 Uhr noch bekommen. Sie sind alle ziemlich gut geworden, besonders Du bist fein getroffen. Ich bin so froh, daß ich die Bilder mir immer ansehen kann. Wie lieb Du wieder überall aussiehst. Jede Linie Deines Gesichtes ist mir lieb und vertraut.
Ernst, mein lieber Ernst!  Heute waren wir beim Arzt t. Es ist soweit wieder gut mit dem Ausschlag. Ein bißchen soll ich‘s noch einreiben. Wenn ich noch Salbe übrig hätte, sollte ich sie evtl. hinbringen, damit man sie jemand anders noch geben kann. Das tue ich aber nicht. Erstens habe ich ja schließlich auch etwas dafür gezahlt und überhaupt weiß man ja nicht, ob der Ausschlag nicht doch noch einmal kommt. Da müßte ich dann wieder neue Salbe bezahlen, nachdem ich sie erst verschenkt habe. 
Liebes, liebes Vaterle! Wir gehen jetzt ins Bett. Du bist der liebste von der Welt. Viele Grüße und Küsse von Deiner Helga.  Jörg.
Unsere Kinder wollten Dir auch noch was schreiben.  Heute war ich auch im Verkehrsamt und habe zwei solche Hefte geholt, wie Du eins mitgenommen hast. Das Fräulein fragte mich, ob ich die Hefte wegschicken wollte. Als ich bejahte, gab sie mir noch Prospekte, für jedes Heft welche. Ich schicke sie Dir besonders. Ich habe nochmals dieselben Prospekte da, wenn Du dafür Interesse haben solltest. Es sind ganz schöne Bilder drin.  Nun ist es ¼ 9 Uhr. Ob Du jetzt schon in Deiner Wohnung bist? Hoffentlich hast Du die Reise gut überstanden. 

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