Montag, 26. September 2016

Brief 223 vom 22./23.9.1941


Mein liebster Ernst!                                                 Konstanz, 22.9.41

Heute Morgen erhielt ich Deine beiden lieben Briefe vom 18. und 19. Vielen Dank  dafür. Man merkt auch bei uns, daß Herbst wird. Meist kommt erst mittags die Sonne durch den Dunst. Manchmal ist es auch vormittags neblig. Helga hat jetzt auch wieder lange Strümpfe angezogen, aber Jörg mag noch nicht, damit er von den anderen Buben nicht ausgelacht wird. Hoffentlich könnt Ihr dort auch im Haus bald heizen, denn besonders angenehm ist es ja nicht, wenn man sich gleich ins Bett legen muß, um nicht zu frieren. Wir sind ja für den Winter soweit versorgt. Evtl. hole ich nur noch 1 - 2 Ztr. Steinkohle.
Es ist ja gut, daß es Radio gibt, da hat man doch immer Unterhaltung. Ihr werdet es dort am meisten empfinden.
Weißt Du, mach Dir nur nicht zu viel Sorge wegen der Verwendung des Zuckers, ich mach mir ja auch keine.
Es ist schön, wenn man nicht so knapp damit ist. Verschwenden braucht man ja nicht, es wachsen ja nächstes Jahr auch wieder Beeren zum einkochen. Ich kann Dir jedenfalls sagen, daß Du mir mit dieser Besorgung sehr viel Freude gemacht hast.
Morgen schicke ich Dir sicher etwas Bindfaden zu. Ich packe ihn in ein kleines Päckchen.
Wir hatten heute Mittag Eierkuchen. Da war ich wieder um das Öl froh, das Du mir früher einmal mitgebracht hattest. Ich habe davon immer noch 1 1/2 Flasche.
Was sich doch Jörg manchmal für Gedanken macht. Vor einiger Zeit hatte ihm Helga das Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen, erzählt. Heute während des Spielens sagt Jörg auf einmal zu mir: Wenn ich mich vor nichts fürchten würde, möchte ich`s auch gar nicht lernen. Der Bub ist aber dumm, das könnte doch ein ganz tapferer Soldat werden.
Weil ich nun gerade beim Erzählen bin, will ich Dir auch noch etwas schreiben, was mir vor ein paar Tagen die Verkäuferin in der Molkerei erzählte. Da kannst Du sehen, was es für Leute gibt. Wenn die verwundeten Soldaten den ersten Ausgang haben, kommen sie auch manchmal dort vorbei und bekommen natürlich Appetit auf etwas Besonderes. Nun haben sie aber keine Marken. Da kam vor ein paar Tagen auch einer, der hatte den Arm noch in einem Gestell und hinkte auch noch. Nun gab ihm die Verkäuferin etwas Käse. Als er draußen war fragte eine Frau, wie der Soldat dazu komme, etwas ohne Marken zu bekommen. Eben weil er Soldat ist und verwundet ist, bekam sie zur Antwort. Darauf meinte sie: „So etwas müßte man nur bei der rechten Stelle anzeigen, da wird man schon sehen, ob das nötig ist.“ Einige Tage drauf kam wieder ein Verwundeter. Weil die Frau, also die Verkäuferin, nun nicht wußte, ob sie angezeigt worden ist, zögerte sie. Da meinte eine Frau: „Ja, können sie überhaupt zögern, einem Verwundeten etwas zu geben. Bitte, schneiden sie von meiner Karte ab, damit der Soldat etwas bekommen kann.“ Der Soldat war sehr erfreut und meinte: „Da sieht man doch, daß man unseren Kampf in der Heimat versteht.“ Es ist schlimm, daß die Meckerer nicht aussterben, denn wir hier bei uns haben doch wahrhaftig noch nicht viel vom Krieg gespürt, aber gerade das ist es, es geht vielen noch zu gut.
Vater kam gerade. Er ist doch heute beim Arbeitsamt vorgelassen worden. Sie haben aber keine richtige Arbeit für ihn. In die Gießerei könnte er gehen, aber da will er nicht. Sie haben ihn noch zur Jägerkaserne geschickt, um sich als Kammerarbeiter zu bewerben, aber da muß er auch oft die Treppen steigen und viel schleppen. Es hat sich auch noch ein Mann von fünfzig Jahren gemeldet. Vorläufig muß Vater eben zu hause bleiben. Da haben sie auf dem Arbeitsamt einen schönen Kohl gemacht.
Nun will ich wieder schließen. Sei recht oft und herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.


Mein liebster Ernst!                                         Konstanz, den 23.9.41

Ehe ich auf die Post fahre und das Päckchen mit Bindfaden aufgebe, schreibe ich noch den Brief. Ich hatte heute ziemlich zu tun. Eigentlich nichts wichtiges, aber es hat doch viel Freude gemacht. Heute Vormittag habe ich erst Schuhe repariert. Da ist der ganze Vormittag drauf gegangen. Später haben wir dann die Kinderbetten umgestellt. Jörg war doch bisher am Fenster. Er schwitzt aber nachts leicht und deckt sich nicht immer gut zu. Da habe ich immer Bedenken, daß er sich erkältet. Helga ist aber immer gut zugedeckt und außerdem hat ja ihr Bett eine Holzwand, so daß es vom Fenster nicht direkt ziehen kann.
Und nun die Hauptarbeit: Ich habe Helga einen Stubenwagen gebaut. Sie hat ja ein größeres Körbchen für die Puppen. Den hat sie meist auf einem Hocker stehen. Nun hat sie mich schon oft wegen einem Puppenwagen gequält. Aber dazu ist mir das Geld zu schade und außerdem wissen wir nicht, wohin damit. Nun kam mir ein Gedanke. Ich habe die Räder vom Kinderbett runtergeholt, habe sie an den Hocker, den ältesten, den wir haben, angeschraubt, den Korb drauf, festgebunden, ringsherum die geblumten Vorhänge vom Kinderbett und fertig ist der Stubenwagen. Die Freude hättest Du sehen sollen. Helga war ganz närrisch. Es sieht auch wirklich gut aus.
Ich habe Dir heute Bindfaden zusammengepackt. Außer einem guten Stück, das ich hier behalten habe, wenn ich ja mal welchen brauche, habe ich jetzt nur noch Papierfaden da. Aber ich denke, die Stücke, die ich Dir geschickt habe, werden schon eine Weile reichen. Evtl. kann ich ja später nochmals welchen schicken, wenn ich wieder Päckchen von Dir bekommen habe.
Wir haben heute wieder 10 Pfund Kartoffeln raus gemacht. Etwa 1/4 der angebauten Kartoffeln haben wir jetzt geerntet. Jedenfalls der Fläche nach. Wie ausgiebig die anderen Stöcke sind, kann ich ja nicht wissen. Heute hatten wir einen ganz ausgiebigen Stock mit 23 größeren Kartoffeln. Das hat mir direkt Freude gemacht.
Ich habe mir von meinem Geburtstagsgeld jetzt noch ein Buch gekauft. „Nacht über Sibirien“ von Ettighofer. Diese Erlebnisse sind furchtbar. Die Russen waren von jeher, auch im vorigen Krieg, grausam und brutal. Früher war es die Ochrama, jetzt ist es die GPU. Es ist schrecklich, daß es so grausame Menschen geben kann.
Es ist jetzt bereits 1/4 6 und ich will machen, daß ich noch auf die Post komme. Einen Brief habe ich ja heute nicht von Dir bekommen.
Sei nun wieder  recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

(Am 25. September starb meine Großmutter in Leipzig und meine Mutter mußte zur Beerdigung fahren. Genau zu diesem Zeitpunkt kam mein Vater auf Urlaub und meine Mutter hielt immer auf den Bahnhöfen Ausschau nach ihm. Ohne Erfolg. Sie müssen sich aber mit den Zügen begegnet sein. Der Brief 161 von meinem Vater ist an Leipzig gerichtet.)

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