Mein
liebster Ernst! Konstanz, 22.9.41
Heute
Morgen erhielt ich Deine beiden lieben Briefe vom 18. und 19. Vielen Dank dafür. Man merkt auch bei uns, daß Herbst
wird. Meist kommt erst mittags die Sonne durch den Dunst. Manchmal ist es auch
vormittags neblig. Helga hat jetzt auch wieder lange Strümpfe angezogen, aber
Jörg mag noch nicht, damit er von den anderen Buben nicht ausgelacht wird.
Hoffentlich könnt Ihr dort auch im Haus bald heizen, denn besonders angenehm
ist es ja nicht, wenn man sich gleich ins Bett legen muß, um nicht zu frieren.
Wir sind ja für den Winter soweit versorgt. Evtl. hole ich nur noch 1 - 2 Ztr.
Steinkohle.
Es
ist ja gut, daß es Radio gibt, da hat man doch immer Unterhaltung. Ihr werdet
es dort am meisten empfinden.
Weißt
Du, mach Dir nur nicht zu viel Sorge wegen der Verwendung des Zuckers, ich mach
mir ja auch keine.
Es
ist schön, wenn man nicht so knapp damit ist. Verschwenden braucht man ja
nicht, es wachsen ja nächstes Jahr auch wieder Beeren zum einkochen. Ich kann
Dir jedenfalls sagen, daß Du mir mit dieser Besorgung sehr viel Freude gemacht
hast.
Morgen
schicke ich Dir sicher etwas Bindfaden zu. Ich packe ihn in ein kleines
Päckchen.
Wir
hatten heute Mittag Eierkuchen. Da war ich wieder um das Öl froh, das Du mir früher
einmal mitgebracht hattest. Ich habe davon immer noch 1 1/2 Flasche.
Was
sich doch Jörg manchmal für Gedanken macht. Vor einiger Zeit hatte ihm Helga
das Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen, erzählt. Heute
während des Spielens sagt Jörg auf einmal zu mir: Wenn ich mich vor nichts
fürchten würde, möchte ich`s auch gar nicht lernen. Der Bub ist aber dumm, das
könnte doch ein ganz tapferer Soldat werden.
Weil
ich nun gerade beim Erzählen bin, will ich Dir auch noch etwas schreiben, was
mir vor ein paar Tagen die Verkäuferin in der Molkerei erzählte. Da kannst Du
sehen, was es für Leute gibt. Wenn die verwundeten Soldaten den ersten Ausgang
haben, kommen sie auch manchmal dort vorbei und bekommen natürlich Appetit auf
etwas Besonderes. Nun haben sie aber keine Marken. Da kam vor ein paar Tagen
auch einer, der hatte den Arm noch in einem Gestell und hinkte auch noch. Nun
gab ihm die Verkäuferin etwas Käse. Als er draußen war fragte eine Frau, wie
der Soldat dazu komme, etwas ohne Marken zu bekommen. Eben weil er Soldat ist
und verwundet ist, bekam sie zur Antwort. Darauf meinte sie: „So etwas müßte
man nur bei der rechten Stelle anzeigen, da wird man schon sehen, ob das nötig
ist.“ Einige Tage drauf kam wieder ein Verwundeter. Weil die Frau, also die
Verkäuferin, nun nicht wußte, ob sie angezeigt worden ist, zögerte sie. Da
meinte eine Frau: „Ja, können sie überhaupt zögern, einem Verwundeten etwas zu
geben. Bitte, schneiden sie von meiner Karte ab, damit der Soldat etwas
bekommen kann.“ Der Soldat war sehr erfreut und meinte: „Da sieht man doch, daß
man unseren Kampf in der Heimat versteht.“ Es ist schlimm, daß die Meckerer
nicht aussterben, denn wir hier bei uns haben doch wahrhaftig noch nicht viel
vom Krieg gespürt, aber gerade das ist es, es geht vielen noch zu gut.
Vater
kam gerade. Er ist doch heute beim Arbeitsamt vorgelassen worden. Sie haben
aber keine richtige Arbeit für ihn. In die Gießerei könnte er gehen, aber da
will er nicht. Sie haben ihn noch zur Jägerkaserne geschickt, um sich als
Kammerarbeiter zu bewerben, aber da muß er auch oft die Treppen steigen und
viel schleppen. Es hat sich auch noch ein Mann von fünfzig Jahren gemeldet.
Vorläufig muß Vater eben zu hause bleiben. Da haben sie auf dem Arbeitsamt
einen schönen Kohl gemacht.
Nun
will ich wieder schließen. Sei recht oft und herzlich gegrüßt und geküßt von
Deiner Annie.
Mein
liebster Ernst! Konstanz, den
23.9.41
Ehe
ich auf die Post fahre und das Päckchen mit Bindfaden aufgebe, schreibe ich
noch den Brief. Ich hatte heute ziemlich zu tun. Eigentlich nichts wichtiges,
aber es hat doch viel Freude gemacht. Heute Vormittag habe ich erst Schuhe
repariert. Da ist der ganze Vormittag drauf gegangen. Später haben wir dann die
Kinderbetten umgestellt. Jörg war doch bisher am Fenster. Er schwitzt aber
nachts leicht und deckt sich nicht immer gut zu. Da habe ich immer Bedenken,
daß er sich erkältet. Helga ist aber immer gut zugedeckt und außerdem hat ja
ihr Bett eine Holzwand, so daß es vom Fenster nicht direkt ziehen kann.
Und
nun die Hauptarbeit: Ich habe Helga einen Stubenwagen gebaut. Sie hat ja ein
größeres Körbchen für die Puppen. Den hat sie meist auf einem Hocker stehen.
Nun hat sie mich schon oft wegen einem Puppenwagen gequält. Aber dazu ist mir
das Geld zu schade und außerdem wissen wir nicht, wohin damit. Nun kam mir ein
Gedanke. Ich habe die Räder vom Kinderbett runtergeholt, habe sie an den
Hocker, den ältesten, den wir haben, angeschraubt, den Korb drauf,
festgebunden, ringsherum die geblumten Vorhänge vom Kinderbett und fertig ist
der Stubenwagen. Die Freude hättest Du sehen sollen. Helga war ganz närrisch.
Es sieht auch wirklich gut aus.
Ich
habe Dir heute Bindfaden zusammengepackt. Außer einem guten Stück, das ich hier
behalten habe, wenn ich ja mal welchen brauche, habe ich jetzt nur noch Papierfaden
da. Aber ich denke, die Stücke, die ich Dir geschickt habe, werden schon eine
Weile reichen. Evtl. kann ich ja später nochmals welchen schicken, wenn ich
wieder Päckchen von Dir bekommen habe.
Wir
haben heute wieder 10 Pfund Kartoffeln raus gemacht. Etwa 1/4 der angebauten
Kartoffeln haben wir jetzt geerntet. Jedenfalls der Fläche nach. Wie ausgiebig
die anderen Stöcke sind, kann ich ja nicht wissen. Heute hatten wir einen ganz
ausgiebigen Stock mit 23 größeren Kartoffeln. Das hat mir direkt Freude
gemacht.
Ich
habe mir von meinem Geburtstagsgeld jetzt noch ein Buch gekauft. „Nacht über
Sibirien“ von Ettighofer. Diese Erlebnisse sind furchtbar. Die Russen waren von
jeher, auch im vorigen Krieg, grausam und brutal. Früher war es die Ochrama,
jetzt ist es die GPU. Es ist schrecklich, daß es so grausame Menschen geben
kann.
Es
ist jetzt bereits 1/4 6 und ich will machen, daß ich noch auf die Post komme.
Einen Brief habe ich ja heute nicht von Dir bekommen.
Sei
nun wieder recht herzlich gegrüßt und
geküßt von Deiner Annie.
(Am 25. September starb meine Großmutter in Leipzig und meine
Mutter mußte zur Beerdigung fahren. Genau zu diesem Zeitpunkt kam mein Vater
auf Urlaub und meine Mutter hielt immer auf den Bahnhöfen Ausschau nach ihm.
Ohne Erfolg. Sie müssen sich aber mit den Zügen begegnet sein. Der Brief 161
von meinem Vater ist an Leipzig gerichtet.)
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