Samstag, 3. September 2016

Brief 213 vom 2./3.9.1941


Mein lieber Ernst!                                                                               Konstanz, 2.9.41                     

 Ich fange heute spät an, Dir auf Deinen lieben Brief vom 29.8. zu antworten. Es ist bereits10Uhr. Ich bin aber nicht eher dazu gekommen, denn ich hatte Wäsche. Es hat heute so gut getrocknet, daß ich hinterher noch alles bügeln konnte. Da ist der Tag schnell vergangen. Vorhin kam noch Vater. Er sagt mir, daß er evtl. bei Rieter anfangen könnte als Modellschreiner, aber er bekäme nur 70 Pfg. pro Stunde und außerdem sei der jetzt dort Meister, der ihn seinerzeit hinausgeekelt hätte, da will er nicht hin.
Heute erhielt ich auch die Päckchen 20/21. Ich habe die Bonbons einstweilen weggetan. Von der Schokolade habe ich die Kinder probieren lassen, ohne jedoch zu sagen, daß Du sie heute geschickt hast. Sonst hätten sie doch das Päckchen sehen wollen. Es war angekommen, als sie in der Schule waren. Ich habe ihnen gesagt, daß es fast Milchschokolade ist. Ich habe auch probiert und sie schmeckt wirklich sehr gut. Aber die Kinder mögen sie doch nicht. Es tut mir sehr leid, aber ich kann es nicht ändern. Desto mehr Freude werden sie an den Bonbons und dem Keks haben. Zu Helga`s Geburtstag verteile ich die Sachen. Helga kann ihren Geburtstag kaum mehr erwarten. Den ganzen Tag redet sie davon. Ich ziehe sie immer ein bißchen auf und sage ihr, daß sie doch nichts bekommt. Aber sie glaubt es mir nicht.
Du schreibst noch wegen der Durchleuchtung. Das ist nun so, Dr. Deeg hatte gesagt, er wolle Durchleuchtung, wenn es soweit wieder gut ist, um festzustellen, ob nichts zurückgeblieben ist. Nun ist es ja aber noch nicht gut und als ich zum letzten Mal bei ihm war und sagte, daß es immer noch nicht gut sein, meinte er, da müsse ich viel Geduld haben, so schnell ginge das nicht weg. Weißt Du, es ist vielleicht am besten, wenn wir darüber nochmals sprechen, wenn Du Urlaub erhältst. Ich versäume ja eigentlich nichts dabei. Für den Fall, daß es schlimm werden würde, hat mir der Arzt ja eine Medizin verschrieben, weiter konnte er auch nichts tun.
Jörg hat jetzt immer viel Sorgen, daß seine „i“ schön werden. Gestern mußte er 3, heute 4 Zeilen voll schreiben. Gestern hat er immer und immer wieder ausgelöscht, wenn es ihm nicht gefiel. Als ich ihm sagte, er solle es doch lassen, es sei doch recht so, meinter er: „Denkst Du, ich will einen Anranzer von der Lehrerin haben oder ich will mich vor der ganzen Klasse blamieren?“ Heute hat er mir schon verkündet, daß sie morgen einen neuen Buchstaben lernen.
Helga kann jetzt in ihre Schule wieder Papier, Knochen, Silberpapier usw. mitbringen. Jetzt ist sie so froh, daß wir einen ganzen Stoß da haben. Ich bin auch froh, daß ich es los werde.
Gestern habe ich Frau Gloger getroffen. Sie erzählte mir von ihrem Mann. Der war erst in Frankreich, dann sollte er in Jugoslawien eingesetzt werden, es war aber schon zu Ende und er ist eine Weile so in dem Land geblieben. Dann kam er nach Polen und ist jetzt in der Ukraine.
Es ist jetzt nach 10 Uhr und ich will schließen, denn ich will ja noch den Brief wegschaffen. Ich danke Dir nochmals recht sehr für Deine lieben Päckchen und grüße und küsse Dich recht herzlich Deine Annie.

Mein liebster Ernst!                                                                    Konstanz, 3.9.41

Post habe ich heute keine von Dir bekommen. Das möchte ich gleich voraus schicken. Da ich nun nichts zu beantworten haben, will ich Dir wieder den Verlauf des Tages schildern. Ich muß da ganz früh anfangen und zwar um 2 Uhr nachts. Fliegeralarm. Raus aus dem schönsten Schlaf und in den Keller. Aber es war ganz gemütlich unten.  1/2 3 Uhr sind wir wieder rauf gegangen. Heute früh bin ich einkaufen gefahren und habe Jörg gleich mit in die Schule genommen. Als ich zurück kam, stand er noch da. Sie hatten wegen dem Alarm erst gegen 10 Uhr Schule. Jörg fühlte sich ganz hilflos und verlassen, weil er doch noch gar niemand kennt. Sogar ein paar Tränen sind geflossen. Als Jörg am ersten Tag zur Schule kam, haben übrigens mehrere Buben geheult, als sie so allein bei den anderen sein mußten. Jörg ja nicht. Wie er mir sagte, hat er sich auch heute ganz in eine Ecke gequetscht, damit ihn niemand heulen sieht. Wenn Jörg erst einmal jemand kennt, wird es ihm bestimmt nicht mehr langweilig, wenn nicht gleich die Schule anfängt. Da wird er dann genau so rumtoben wie es Helga jetzt tut.
Heute Nachmittag habe ich im Garten geschafft, die oberen Erdbeeren ausgeputzt und umgegraben. Jetzt sieht auch das wieder ordentlich aus.
Am Abend hat Helga Himbeerblätter zu Tee abgeschnitten. Die wollen wir jetzt wieder trocknen.
Wir haben jetzt ein paar Mal Brombeerblätter gehabt. Das ist eigenartig. Der fließt wie Öl aus der Kanne, ganz dick.
Ich habe heute Helga`s Geburtstagstisch schon aufgebaut. Sie fragte mich nämlich schon den ganzen Tag, ob sie jetzt bald nicht mehr in die Stube darf. Weißt Du, da ist doch die Spannung und Vorfreude viel größer. Helga erhält nun eine kleine Tasche, ein Buch, ein kleines Spiel „Mensch hau ab“(Das Spiel hat Helga schon bei Ingrid mitgespielt und es hat ihr so gefallen). Dann bekommt sie Gebäck, Bonbons. Durch Dich und Kurt sind eine ganze Menge Bonbons zusammen gekommen, da wird sie zufrieden sein. Morgen backe ich noch einen Kuchen.
Es ist jetzt 8 Uhr und ich will die Kinder hereinrufen, damit sie dann ins Bett kommen. Ich schließe deshalb und grüße und küsse Dich recht oft und herzlich Deine Annie.

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