Samstag, 5. Dezember 2015

Brief 103 vom 5.12.1940


Mein lieber Ernst!                                                                                           5.12.40   

Heute ist wieder das scheußlichste Wetter, das man sich denken kann. Stürmisch und dabei halb Schnee, halb Regen. Du wirst lachen, wenn ich Dir sage, daß ich jetzt „Faust“ lese, der so lange unbeachtet im Regal stand. Ich habe geradezu gestaunt, wie viele Zitate ich daraus kenne, von denen ich keine Ahnung hatte, daß sie daraus stammen, wie z.B. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“; „der Worte sind genug gewechselt, laßt mich auch endlich Taten sehen“; „es irrt der Mensch, solang er strebt“; „da steh ich nun ich armer Tor und bin so klug als wie  zuvor“. Auch das Wort: „Das also war des Pudels Kern“ war mir bekannt, aber ich habe nie gewußt, daß es daher stammt, daß Mephistopheles  aus dem Pudel erscheint. Siehst Du, so dumm bin ich noch. Im Übrigen muß ich feststellen, daß der „Faust“ gar nicht langweilig ist. Manches hat ja eine gewisse Komik für mich, z.B. der Besuch bei der Hexe. Dieses Kapitel hat doch Hauff in seinem Buch „Memoiren des Satans“ verspottet und nun fällt mir das immer beim lesen ein. Aber das wird Dich vielleicht alles gar nicht so interessieren.
Heute Abend sollte doch eigentlich der Nikolaus kommen, nun ist er nicht einmal da. Ich habe die Kinder schon langsam dahin gebracht, daß sie ihn nicht erwarten, sondern ein Tellerchen auf den  Korridor stellen. Heute sagten sie schon: „Weißt Du, Mutterle, der Bart vom Nikolaus sieht immer aus wie Watte, aber das wird sicher keine Watte sein?“ Auch viele andere Fragen habe ich in den letzten Tagen gestellt bekommen. „Es gibt doch bloß einen Nikolaus? Wo wohnt er? Ist er im Himmel? Warum kommt er nur zu manchen Kindern? Müßt Ihr zu den Geschenken dem Weihnachtsmann Geld geben? Darum bekommen manche Kinder wohl mehr oder wenig geschenkt, wenn die Eltern kein Geld haben? Zum Vaterle kommt doch sicher auch der Nikolaus?“ So geht es immer weiter. Jörg ist ja nicht sehr bescheiden: „Wenn ich bloß die Sachen kriege, die ich mir wünsche, dann habe ich ja wenig Sachen zu Weihnachten. Aber es ist eben Krieg.“ Helga sagt dann drauf: „Du bist aber bös. Die Sachen, die Du Dir wünschst, kosten schon genug Geld.“
Ich habe ja soweit alles zusammen, auch Kerzen usw. Nur der Baum fehlt noch. Das hat aber noch gut Zeit.
Nachdem ich die Handschuhe für die Kinder gestrickt habe, bin ich jetzt bei den Socken. Das ist so eine Arbeit, die ich immer am Abend mache.
Gestern Abend wurde beim Nachrichtendienst doch die Nachricht durchgegeben, daß Major Wick den Fliegertod gefunden hat. Das hat uns allen sehr leid getan. Vor ein paar Wochen war doch erst auf den Illustrierten das Bild zu sehen, wo er von seiner Mutter, die in einem Berliner Krankenhaus liegt, Abschied nahm. Für diese Frau wird es auch sehr schwer sein.
Diesmal habe ich Dir aber einen langen Brief geschrieben und ich will schließen, um nicht Deinen Unwillen zu erregen, daß Du Deine ganze Zeit mit lesen vertrödeln mußt. Bleib gesund, mein lieber Ernst, und sei herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

Lieber Vater! Hurra, Hurra, heute Nacht kommt der Nikolaus, wir stellen einen Teller raus. Mutterle sagt: Er bringt uns sicher eine Rute. Glaubst Du das auch? Wir glauben`s nicht. Er bringt uns sicher was anderes. Ich schreibe es Dir Morgen. Kommt der Nikolaus auch zu Dir? Viele Grüße und Küsse von Deiner Helga. Jörg

Mein liebster Mann!                                                               Konstanz, 5.12.40   abends

Nun ist der große Nikolausabend herangekommen. Am Abend sind die Kinder immer ganz zusammen gefahren, wenn sie draußen nur einen Schritt hörten. Im Dunkeln trauten sie sich schon gar nicht mehr aus der Stube, aus Furcht, plötzlich dem Nikolaus gegenüber zu stehen. Ein großes Raten hat begonnen, was er wohl bringen wird. Vorhin hat mir Helga ein nettes Nikolauslied vorgesungen. Sie hat es in der Schule gelernt. Morgen wollen wir es öfter zusammen singen, damit es Jörg es auch lernt.
Ich habe für jeden einen gebackenen Nikolaus, einen Pfefferkuchen-Nikolaus, ein großes und zwei kleine Pfefferkuchenherzen und einige Bonbon besorgt. Schokolade und Figuren gibt es ja dieses Jahr nicht. Aber ich glaube, sie werden auch an diesen Sachen ihre Freude haben.
Ich habe heute Abend noch ein bißchen an den Socken gestrickt und will jetzt, nachdem die Nachrichten vorbei sind, ins Bett gehen. Schlaf auch Du gut, mein lieber Ernst und bleib gesund.

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