Mein lieber Ernst! 5.12.40
Heute ist wieder das scheußlichste Wetter,
das man sich denken kann. Stürmisch und dabei halb Schnee, halb Regen. Du wirst
lachen, wenn ich Dir sage, daß ich jetzt „Faust“ lese, der so lange unbeachtet
im Regal stand. Ich habe geradezu gestaunt, wie viele Zitate ich daraus kenne,
von denen ich keine Ahnung hatte, daß sie daraus stammen, wie z.B. „Wer vieles
bringt, wird manchem etwas bringen“; „der Worte sind genug gewechselt, laßt
mich auch endlich Taten sehen“; „es irrt der Mensch, solang er strebt“; „da
steh ich nun ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor“. Auch das Wort: „Das also war des Pudels Kern“ war mir
bekannt, aber ich habe nie gewußt, daß es daher stammt, daß Mephistopheles aus dem Pudel erscheint. Siehst Du, so dumm
bin ich noch. Im Übrigen muß ich feststellen, daß der „Faust“ gar nicht langweilig
ist. Manches hat ja eine gewisse Komik für mich, z.B. der Besuch bei der Hexe.
Dieses Kapitel hat doch Hauff in seinem Buch „Memoiren des Satans“ verspottet
und nun fällt mir das immer beim lesen ein. Aber das wird Dich vielleicht alles
gar nicht so interessieren.
Heute Abend sollte doch eigentlich der Nikolaus
kommen, nun ist er nicht einmal da. Ich habe die Kinder schon langsam dahin gebracht,
daß sie ihn nicht erwarten, sondern ein Tellerchen auf den Korridor stellen. Heute sagten sie schon: „Weißt
Du, Mutterle, der Bart vom Nikolaus sieht immer aus wie Watte, aber das wird
sicher keine Watte sein?“ Auch viele andere Fragen habe ich in den letzten
Tagen gestellt bekommen. „Es gibt doch bloß einen Nikolaus? Wo wohnt er? Ist er
im Himmel? Warum kommt er nur zu manchen Kindern? Müßt Ihr zu den Geschenken
dem Weihnachtsmann Geld geben? Darum bekommen manche Kinder wohl mehr oder
wenig geschenkt, wenn die Eltern kein Geld haben? Zum Vaterle kommt doch sicher
auch der Nikolaus?“ So geht es immer weiter. Jörg ist ja nicht sehr bescheiden:
„Wenn ich bloß die Sachen kriege, die ich mir wünsche, dann habe ich ja wenig
Sachen zu Weihnachten. Aber es ist eben Krieg.“ Helga sagt dann drauf: „Du bist
aber bös. Die Sachen, die Du Dir wünschst, kosten schon genug Geld.“
Ich habe ja soweit alles zusammen, auch
Kerzen usw. Nur der Baum fehlt noch. Das hat aber noch gut Zeit.
Nachdem ich die Handschuhe für die Kinder
gestrickt habe, bin ich jetzt bei den Socken. Das ist so eine Arbeit, die ich
immer am Abend mache.
Gestern Abend wurde beim Nachrichtendienst
doch die Nachricht durchgegeben, daß Major Wick den Fliegertod gefunden hat.
Das hat uns allen sehr leid getan. Vor ein paar Wochen war doch erst auf den
Illustrierten das Bild zu sehen, wo er von seiner Mutter, die in einem Berliner
Krankenhaus liegt, Abschied nahm. Für diese Frau wird es auch sehr schwer sein.
Diesmal habe ich Dir aber einen langen
Brief geschrieben und ich will schließen, um nicht Deinen Unwillen zu erregen,
daß Du Deine ganze Zeit mit lesen vertrödeln mußt. Bleib gesund, mein lieber
Ernst, und sei herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.
Lieber
Vater! Hurra, Hurra, heute Nacht kommt der Nikolaus, wir stellen einen Teller
raus. Mutterle sagt: Er bringt uns sicher eine Rute. Glaubst Du das auch? Wir
glauben`s nicht. Er bringt uns sicher was anderes. Ich schreibe es Dir Morgen.
Kommt der Nikolaus auch zu Dir? Viele Grüße und Küsse von Deiner Helga. Jörg
Mein liebster Mann! Konstanz, 5.12.40 abends
Nun ist der große Nikolausabend herangekommen.
Am Abend sind die Kinder immer ganz zusammen gefahren, wenn sie draußen nur
einen Schritt hörten. Im Dunkeln trauten sie sich schon gar nicht mehr aus der
Stube, aus Furcht, plötzlich dem Nikolaus gegenüber zu stehen. Ein großes Raten
hat begonnen, was er wohl bringen wird. Vorhin hat mir Helga ein nettes
Nikolauslied vorgesungen. Sie hat es in der Schule gelernt. Morgen wollen wir
es öfter zusammen singen, damit es Jörg es auch lernt.
Ich habe für jeden einen gebackenen
Nikolaus, einen Pfefferkuchen-Nikolaus, ein großes und zwei kleine
Pfefferkuchenherzen und einige Bonbon besorgt. Schokolade und Figuren gibt es
ja dieses Jahr nicht. Aber ich glaube, sie werden auch an diesen Sachen ihre
Freude haben.
Ich habe heute Abend noch ein bißchen an
den Socken gestrickt und will jetzt, nachdem die Nachrichten vorbei sind, ins
Bett gehen. Schlaf auch Du gut, mein lieber Ernst und bleib gesund.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen