Dienstag, 1. Dezember 2015

Brief 101 vom 1./2.12.1940


Mein lieber Ernst!                                                                           Konstanz, 1.Dez.40  

Es ist heute bereits 10 Uhr geworden ehe ich dazu komme, an Dich zu schreiben und Dir für Deine beiden lieben Briefe vom 21. und 22.11. zu danken. Das war heute eine schöne Sonntagsfreude. Nun wirst Du auch wissen wollen, warum ich heute keinen Brief an Dich geschrieben habe. Daran war das Stollen backen schuld. Ich hätte Dir vielleicht ganz kurz schreiben können, aber damit wollte ich Dich nicht abspeisen. Ich wollte doch wenigstens Deine Briefe beantworten.
Ja sag mal, seid Ihr eigentlich noch in Feindesland, daß Ihr soviel Familien dort habt, die Ihr sehr gut kennt? Du hast ja dort mehr Bekannte als ich hier. Der Vergleich hinkt ja eigentlich, denn Bekannte habe ich hier ja eigentlich gar nicht und bin sehr allein und verlassen. Von den Hausbewohnern habe ich mich auch noch mehr zurückgezogen, damit ich in keinen Krach mit hineingezogen werde. Ich will mich ja in nichts hineinmischen, aber ich muß schon sagen, daß mir die Familie, von der Du sprichst,  nicht sehr gefällt, nachdem sie sich gewissermaßen  über unsere Soldaten lustig machen, wenn sie sagen, Marken sind nur für Soldaten da. Ich glaube nämlich, es wird auch dort nur Sachen ohne Marken für die Leute geben, die viel Geld haben und sich auf Kosten anderer bereichern. Sind diese Leute eigentlich den Deutschen wirklich so gewogen, daß sie Euch einladen, oder versuchen sie nicht, sich dadurch irgendwelche Vorteile zu verschaffen. Vielleicht denke ich auch falsch, denn ich kenne ja die Leute, mit denen Du dort verkehrst, nicht, wie ich ja eigentlich überhaupt, trotzdem wir uns viel schreiben, von Deinem Leben dort sehr wenig weiß. Das eine bitte ich Dich aber, entwöhne Dich uns nicht ganz und lebe Dich bitte dort nicht zu sehr ein. Ich möchte Dich nicht verlieren. Es ist vielleicht egoistisch von mir, aber lieber Ernst, Du weißt, ich habe nur Dich, dem ich ganz vertrauen kann und manchmal habe ich große Angst, daß Du Dich uns entfremdest. Diese Angst ist so groß, daß sie mich bis in die Träume hinein verfolgt und mir die Nächte zur Qual macht. Bitte Ernst, schreibe mir doch einmal Deine ehrliche Meinung darüber. Ich lasse den Kopf nicht hängen, aber es ist oft sehr hart, so ganz allein zu sein. Ich wünschte wirklich, es wär´ schon wieder Frühling, damit ich im Garten schaffen könnte. So immer in der Wohnung und die langen Abende allein dasitzend, komme ich mir manchmal wie gefangen vor.
Wenn Du mir Konserven schicken kannst, so freue ich mich sehr und danke Dir, daß Du auch in dieser Beziehung an uns denkst. Von vielen Sachen, die Du beschreibst, habe ich keine blasse Ahnung.
Wenn Du Deine Wohnung für mich aufzeichnest, so brauchen das nun keine Kunstwerke zu werden. Ich bin schon mit ein paar Strichen zufrieden. In der Hauptsache möchte ich wissen, wo Du schläfst, damit ich mir das beim einschlafen immer vorstellen kann.
Nun zu der Päckchenangelegenheit. Du schreibst: am 21., 22., 23.10 je 2 Päckchen abgeschickt (die habe ich erhalten) am 29. und 30.10. eins, am 13.11. mit Kaffee und Fett ein Päckchen. Nun kommt die Schwierigkeit und Unstimmigkeit. Im Brief vom 22. schreibst Du: am 14.11. 2 Päckchen, am15.11. fünf Päckchen ab gesandt. Nun habe ich nochmals alle Briefe nachgesehen. Du schreibst am 14.11.: Morgen gehen die angekündigten Päckchen ab. Es sind mit dem gestern (am 13.11.) gesandten 6 Päckchen. Diese habe ich ja auch erhalten. Nur die angekündigten Konserven waren nicht dabei. Von 2 weiteren Päckchen schreibst Du weder im Brief vom 14. oder 15. noch in einem weiteren Brief etwas.
Du bist ein schlimmer Kerl. Immer willst Du mich mit Deinen Einkäufen neugierig machen. Aber Du weißt ja, Neugierde ist nun nicht gerade meine schwache Seite. Freuen tue ich mich aber doch, wenn Du mir etwas gekauft hast. Wenn ich auch noch nicht weiß, was es ist, so weiß ich doch, daß es sicher etwas schönes ist. Über das, was Du mir bisher gekauft hast, habe ich mich immer freuen können.
Heute Abend war Vater da und hat die Wäsche gebracht. Als ich ihn vorhin zum Haus hinaus ließ, habe ich auch unsere Sterne gesehen. Vielleicht hast Du auch gerade zu ihnen hinauf gesehen. Am Nachmittag habe ich heute den Adventskranz für uns geflochten. Es sieht gleich ein wenig weihnachtlich aus, besonders wenn die mit Puderzucker bestreuten Stollen daneben stehen. Jörg hat heute auch einen Wunschzettel geschrieben, d.h. eigentlich hat er ihn gemalt. Oben einen Soldaten, daneben steht eine 6, also will er 6 Soldaten. Darunter steht ein Motorrad mit einer 2, also 2 Motorräder. Ganz unten steht ein Auto. Ich schicke Dir den Wunschzettel mit.
Übrigens brauchst Du, wie Du in dem  langen Brief vom 22. schreibst, wirklich keine Angst haben, daß mir Deine längeren Briefe zu viel werden. Von Deinen Briefen kann ich überhaupt nicht genug bekommen und wenn sie zehnmal so lang sind. .
An Elsa Legler habe ich auch geschrieben. Den Durchschlag füge ich bei. Bei uns wird es jetzt ziemlich kalt. Heute hatten wir ca. 5 Grad Kälte und dabei ziemlichen Wind. Dadurch erscheint einem die Kälte doppelt groß. Nächste Woche will ich Vater mit helfen, die Doppelfenster reinmachen. Jetzt kann er sie bald brauchen. Er gibt mir Bescheid, wenn er sie vom Speicher geholt hat. Heute habe ich vom Roten Kreuz Bescheid bekommen, daß ich den Liegestuhl wieder abholen kann. Da wollen wir morgen früh hingehen.
Nun will ich für heute Abend schließen. Es ist bereits 3/4 12 Uhr. Schlaf gut, mein lieber, lieber Ernst und wach ganz gesund wieder auf.
2.Dezember.  Guten Morgen, mein lieber Schatz! Wir gehen jetzt zum Roten Kreuz. Da nehmen wir diesen Brief gleich mit. Lieber Ernst! Vielleicht ist es nicht recht von mir, daß ich Dir gestern von meiner Angst geschrieben habe. Aber ich mußte es Dir einmal sagen. Mit jemand anders, auch mit Vater, möchte ich nicht darüber reden. Nur Dir möchte ich immer alles sagen. Nun will ich schließen. Sei mir bitte über mein Schreiben nicht böse.
Sei recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.
Mein lieber Ernst!                                                                                         Konstanz, 2.12.40

Heute schreibe ich Dir das erste Mal von der Stube aus. In der Küche muß ich so viel heizen, um warm zu bekommen da reichen mir dann evtl. die Kohlen gar nicht. Ich habe nun Deinen Rat befolgt und am Nachmittag in der Stube gefeuert. Es ist ganz gemütlich.
Du wirst vielleicht schon meinen Brief von gestern erhalten haben. Vielleicht hast Du Dich darüber geärgert. Ich bereue es heute, daß ich Dir von meiner Angst um Dich geschrieben habe, denn eigentlich ist es  von mit Dir gegenüber undankbar. Aus vielen Sachen, die Du für mich und uns gekauft hast, sehe ich ja immer wieder, wie Du mit uns verbunden bist. Trotzdem bitte ich Dich, mir, wie ich Dich gebeten habe, zu antworten. Ein wenig leichter ist es mir jetzt geworden, nachdem ich Dir geschrieben habe. Aber es können doch wieder dunkle und kleingläubige Stunden kommen, da soll mir Dein Brief dann ein Helfer sein. Einsamkeit ist manchmal schwer zu ertragen. Die Gedanken gehen immer im Kreis und zuletzt rennen sie sich fest.
Heute früh haben wir den Liegestuhl geholt. Am Nachmittag mußte Helga ohne Schulranzen zur Schule, da sie einen Schulfilm, einige Märchen, sehen konnten. Du kannst Dir die Freude denken.
Bei uns ist nun wirklich der Winter eingekehrt. Wenn nicht mit Schnee, so doch mit Kälte. 5 - 6 Grad waren es in den letzten Tagen immer. Man friert schon ziemlich an die Nasenspitze, wenn man auf dem Rad fährt.
Ob du wohl gestern schon die zwei Adventspäckchen erhalten hast? Es würde mich a sehr freuen.
Ich habe jetzt meine Weihnachtsbäckerei  soweit fertig. Vier Stück 1 1/2Pfund Stollen und Kleingebäck. Von letzterem werde ich noch ein bißchen backen, wenn es neue Karten und damit auch wieder Mehl gibt. Aber das ist dann nicht mehr viel Arbeit.
Mein lieber Ernst! Nun möchte ich Dich wegen meines gestrigen Schreibens nochmals um Entschuldigung und darum bitten, daß Du mich auch weiterhin lieb behältst, wenn ich Dir auch gestern Ärger bereitet habe. Ich werde weiter versuchen, Deine tapfere Frau zu sein. Du fehlst mir eben sehr.
Nun will ich schließen mit der Bitte, daß Du mir gar nicht mehr böse sein mögest.
Sei nun recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.

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