Samstag, 7. Oktober 2017

Brief 430 vom 26.9.1942


Mein liebster Ernst!                                       Konstanz, 26.9.42

Zum zweiten Male in kurzer Zeit muss ich Dich um Entschuldigung bitten, dass ich am vorhergehenden Tage nicht geschrieben habe. Ich bin aber wirklich nicht dazu gekommen. An Morgen bin ich noch schnell einkaufen gefahren, dann habe ich gekocht, später haben wir Papa auf´s Schiff gebracht und sind hinterher zum Doktor gegangen. Als wir heim kamen, haben wir Abendbrot gegessen, und nachdem die Kinder in´s Bett gegangen sind, habe ich mich auch schlafen gelegt. Vater war die vorhergehenden Abende immer hier, und meist bin ich dann vor ¼ 12 Uhr nicht in´s Bett gekommen. Gestern war ich aber nun so müd, dass mir dauernd die Augen zu gefallen sind.
Vor allem wird Dich nun der Bescheid des Arztes über Helga interessieren. Wie ich Dir schon schrieb, war mit dem Ausfluss auch gleichzeitig die Geschwulst in der Brust weg. Der Arzt sagt nun, dass diese beiden Sachen nur indirekt Zusammenhang haben. Der Körper ist in der Entwicklung begriffen. Im Verlauf dieser ist die Geschwulst verschwunden, und die Sache mit der Brust ist als erledigt zu betrachten. Wir müssen nichts mehr machen. Der Ausfluss ist ein Vorläufer der späteren Periode. Scheinbar ist der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen, denn der Arzt verschrieb Helga diesmal Calcipot C und sagte, wir müssten das tun, damit die gegenwärtige Krise gut überstanden wird. In drei Wochen muss ich wieder mit Helga hinkommen. Die Müdigkeit hat bei ihr wieder nachgelassen, sie ist jetzt wieder munterer, nur bei den Schulaufgaben merkt man, dass sie noch nicht ganz bei der Sache ist. Zu essen gebe ich den Kindern ja immer reichlich, da leiden sie keine Not. Sie bekommen viel Butter auf´s Brot, haben auch immer Äpfel zu essen, Brot selber bekommen sie ja jetzt auch mehr. Und beim Mittagessen fehlt es auch nicht. Aber ich weiß es ja noch von mir. Während der Entwicklungszeit habe ich manchmal vor Schwäche fast nicht mehr laufen können, und sogar der Schulranzen war mir zu schwer zum Tragen. Helga wird es schon gut überhauen. Ich gebe jedenfalls in jeder Beziehung Obacht und lasse es an nichts fehlen. Das kannst du ganz bestimmt glauben. Froh bin ich ja erst mal, dass das mit der Brust gut ist, denn das hat mir immer Sorge gemacht. Man weiß zwar nicht, was noch alles mal auftritt.
Nun will ich Dir noch von Papas Besuch erzählen. Vorausschicken will ich noch, dass meine Sorge unbegründet war. Es waren schöne 2 Wochen, und sie sind ohne jeden Zank verlaufen. Papa war für alles sehr dankbar. Wie er mir wiederholt sagte, hatte er nach unserem Briefwechsel gar nicht mit solch herzlichem empfang gerechnet. Zuerst traute er sich gar nicht richtig zu essen, weil er es nicht gewohnt war, sich einige Male nehmen zu können, denn er isst doch sonst im Geschäft. Mich hat´s gefreut, dass ich ihm richtig was vorsetzen konnte, vor allen Dingen, da ich es doch meist aus dem Garten holen konnte. Äpfel hat er auch gerne gegessen, und wir hatten ja auch jeden Tag Falläpfel oder Apfelmus.
Einmal sind wir ja nach Bregenz gefahren, wie ich Dir schon schrieb. Einige Male ist Papa angeln gegangen, leider ohne Ergebnis. Aber das ist ja nicht das Wichtigste. Er hat sich dabei doch ein wenig erholt. 3 Mal war ich mit Papa im Kino. 2 Mal waren wir im Cafe, dann war er einmal auf der Reichenau. Einen Tag hat er mir mit Kartoffeln raus gemacht, und am Donnerstag hat er mit Kartoffeln geholt. Es ist doch ziemlich weit, bei Klein Venedig vom Güterwagen muss man sie holen. So sind die Tage schnell vergangen. Einmal haben wir von der Heirat und von Erna gesprochen. Ich schreibe es Dir so auf, wie er es gesagt hat:
„Weißt Du, Alt und Jung passt nicht immer zusammen. Ich bin von Mam gewöhnt, dass wir immer ein wenig zusammen waren. Aber jetzt bin ich mir manchmal vorgekommen, wie ein Handwerksbursche. Früh steht Erna schnell auf, macht mir das Frühstück, stell es in die Stube und geht wieder in´s Bett. Da esse ich nun, stelle dann die Teller in die Küche und gehe fort. Abends ist es das Gleiche. Das Essen wird mir hingestellt, sage ich zu Erna, ob sie nicht mit isst, so sagt sie entweder, sie hat schon gegessen oder sie hat keinen Hunger und geht zu ihrer Freundin oder zu den Frauen im Haus. Das ist nichts für mich. Jetzt, wo Siegfried im Urlaub war, hat sie immer für Siegfried was anderes gekocht, wie für mich. Wahrscheinlich hat es Siegfried mitgebracht. Ich will auch nichts davon, aber dann sollen sie es essen, wenn ich nicht dabei bin, sonst kommt man sich so ausgeschlossen vor.“
Von seiner zukünftigen Frau sagte er: „Wir kennen uns schon so lange vom Geschäft her und ich weiß, sie ist tüchtig und auch gut. Warum soll ich eine ganz Fremde heiraten, die ich vielleicht erst einige Monate kenne und wo ich nicht weiß, wie sie ist. Angebote habe ich nach Mama´s Tod genug bekommen. Lotte würde sich sehr freuen, wenn sie mit Euch in ein gutes Verhältnis käme. Sie hat mir auch gesagt, dass wir unser Testament zusammen in der Weise machen, dass Ihr nach meinem Tod einen Teil meiner Sachen bekommt, und nach Lottes Tod alles, denn sie hat keine Angehörigen mehr, außer ihrer Schwester, die sich aber um die Mutter nicht gekümmert hat, und mit der sie sich deshalb nicht gut steht.“
Ich habe Papa ja nun wieder gesehen, und habe mir ein besseres Bild von ihm machen können, als nach den Briefen. Er ist noch voller Lebenslust, und auf die trüben Gedanken kommt er, wie er selber sagt, nur, wenn er so alleine sitzen muss. Soviel ich sehe, bleibt er doch nicht allein, und da ist es wohl besser, er heiratet,  als wenn er evtl. so mit jemandem rumziehen würde. Das wäre mir erst recht schlimm. Aus seinen Reden habe ich gemerkt, dass er sich von der alten Frau nichts reinreden lässt, sondern dass er da bestimmt. Ich hoffe, dass sich das Verhältnis zwischen uns allen nun wieder besser gestaltet.
Zu Papa haben sie im Haus schon gesagt, er wäre ja noch so voller Lebenslust, er solle mir was davon abgeben, ich sei immer so ruhig und würde immer zuhause sitzen und fast nie fortgehen. Da hat mich Papa in Schutz genommen und hat zu Frau Leimenstoll gesagt, er würde eben sehr an Dir hängen, und hätte deshalb keine Lust, allein fortzugehen. Überhaupt war Papa sehr milde in seinem Urteil diesmal. Auch Deinen Vater hat er ja gelobt, was umgekehrt nicht ganz so gewesen ist. Vater sagte mal, Papa wäre so anmaßend, er würde sich ohne weiteres von dem Cognac eingießen, den ich auf den Tisch gestellt habe und würde so über andere bestimmen. Da hätte er mehr Takt und wüsste, was sich gehört. Da hättest Du gestern mal dabei sein müssen. Dein Vater war nochmal hier und wollte ade sagen. Er musste nun sowieso in die Stadt, und da hat ihn Papa soweit gebracht, dass er mit dem Omnibus fuhr. Wenn Papa, wie es nun seine Art ist, mal laut geredet hat, ist Vater bald in ein Mauseloch gekrochen und hat immer „psst“ gesagt. Die Kinder hätten auch am liebsten nichts sagen sollen. Aber das machen doch alle so, da ist doch nichts dabei. Da hat man gemerkt, dass Vater das Omnibusfahren nicht gewöhnt ist, denn er läuft doch noch alles. Putzig ist es mir immer vorgekommen, wenn sie Paul und Adolf zueinander gesagt haben.
Gestern ist nun Papa wieder weggefahren. Er hat sich immer wieder bedankt und gesagt, so schön hätte er sich den Urlaub nicht gedacht und er danke mir immer wieder. Mich freut es ja auch, wenn ich es jemand recht gemütlich und froh machen kann.
Heute Morgen habe ich mit Vater für mich noch 2 Zentner und für ihn 2 Zentner Kartoffeln geholt. Wir haben nun beide die Hälfte da. Die anderen werden später zugeteilt. Vielleicht in einigen Wochen. Hoffentlich ist es da noch nicht kalt.
Nun habe ich noch eine Frage: Helga quält mich schon immer damit. Sie möchte auch die Haare kurz geschnitten haben. Was sagst Du dazu?
Nun lass mich schließen und sei recht herzlich gegrüßt und geküsst von Deiner Annie.

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