Mein liebster Ernst! Konstanz,
26.9.42
Zum zweiten Male in kurzer Zeit muss ich Dich um
Entschuldigung bitten, dass ich am vorhergehenden Tage nicht geschrieben habe.
Ich bin aber wirklich nicht dazu gekommen. An Morgen bin ich noch schnell
einkaufen gefahren, dann habe ich gekocht, später haben wir Papa auf´s Schiff
gebracht und sind hinterher zum Doktor gegangen. Als wir heim kamen, haben wir
Abendbrot gegessen, und nachdem die Kinder in´s Bett gegangen sind, habe ich
mich auch schlafen gelegt. Vater war die vorhergehenden Abende immer hier, und
meist bin ich dann vor ¼ 12 Uhr nicht in´s Bett gekommen. Gestern war ich aber
nun so müd, dass mir dauernd die Augen zu gefallen sind.
Vor allem wird Dich nun der Bescheid des Arztes über Helga
interessieren. Wie ich Dir schon schrieb, war mit dem Ausfluss auch
gleichzeitig die Geschwulst in der Brust weg. Der Arzt sagt nun, dass diese
beiden Sachen nur indirekt Zusammenhang haben. Der Körper ist in der
Entwicklung begriffen. Im Verlauf dieser ist die Geschwulst verschwunden, und
die Sache mit der Brust ist als erledigt zu betrachten. Wir müssen nichts mehr
machen. Der Ausfluss ist ein Vorläufer der späteren Periode. Scheinbar ist der
ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen, denn der Arzt verschrieb Helga diesmal
Calcipot C und sagte, wir müssten das tun, damit die gegenwärtige Krise gut
überstanden wird. In drei Wochen muss ich wieder mit Helga hinkommen. Die
Müdigkeit hat bei ihr wieder nachgelassen, sie ist jetzt wieder munterer, nur
bei den Schulaufgaben merkt man, dass sie noch nicht ganz bei der Sache ist. Zu
essen gebe ich den Kindern ja immer reichlich, da leiden sie keine Not. Sie
bekommen viel Butter auf´s Brot, haben auch immer Äpfel zu essen, Brot selber
bekommen sie ja jetzt auch mehr. Und beim Mittagessen fehlt es auch nicht. Aber
ich weiß es ja noch von mir. Während der Entwicklungszeit habe ich manchmal vor
Schwäche fast nicht mehr laufen können, und sogar der Schulranzen war mir zu
schwer zum Tragen. Helga wird es schon gut überhauen. Ich gebe jedenfalls in
jeder Beziehung Obacht und lasse es an nichts fehlen. Das kannst du ganz
bestimmt glauben. Froh bin ich ja erst mal, dass das mit der Brust gut ist,
denn das hat mir immer Sorge gemacht. Man weiß zwar nicht, was noch alles mal auftritt.
Nun will ich Dir noch von Papas Besuch erzählen.
Vorausschicken will ich noch, dass meine Sorge unbegründet war. Es waren schöne
2 Wochen, und sie sind ohne jeden Zank verlaufen. Papa war für alles sehr
dankbar. Wie er mir wiederholt sagte, hatte er nach unserem Briefwechsel gar
nicht mit solch herzlichem empfang gerechnet. Zuerst traute er sich gar nicht
richtig zu essen, weil er es nicht gewohnt war, sich einige Male nehmen zu
können, denn er isst doch sonst im Geschäft. Mich hat´s gefreut, dass ich ihm
richtig was vorsetzen konnte, vor allen Dingen, da ich es doch meist aus dem
Garten holen konnte. Äpfel hat er auch gerne gegessen, und wir hatten ja auch
jeden Tag Falläpfel oder Apfelmus.
Einmal sind wir ja nach Bregenz gefahren, wie ich Dir schon
schrieb. Einige Male ist Papa angeln gegangen, leider ohne Ergebnis. Aber das
ist ja nicht das Wichtigste. Er hat sich dabei doch ein wenig erholt. 3 Mal war
ich mit Papa im Kino. 2 Mal waren wir im Cafe, dann war er einmal auf der
Reichenau. Einen Tag hat er mir mit Kartoffeln raus gemacht, und am Donnerstag
hat er mit Kartoffeln geholt. Es ist doch ziemlich weit, bei Klein Venedig vom
Güterwagen muss man sie holen. So sind die Tage schnell vergangen. Einmal haben
wir von der Heirat und von Erna gesprochen. Ich schreibe es Dir so auf, wie er
es gesagt hat:
„Weißt Du, Alt und Jung passt nicht immer zusammen. Ich bin
von Mam gewöhnt, dass wir immer ein wenig zusammen waren. Aber jetzt bin ich
mir manchmal vorgekommen, wie ein Handwerksbursche. Früh steht Erna schnell
auf, macht mir das Frühstück, stell es in die Stube und geht wieder in´s Bett.
Da esse ich nun, stelle dann die Teller in die Küche und gehe fort. Abends ist
es das Gleiche. Das Essen wird mir hingestellt, sage ich zu Erna, ob sie nicht
mit isst, so sagt sie entweder, sie hat schon gegessen oder sie hat keinen
Hunger und geht zu ihrer Freundin oder zu den Frauen im Haus. Das ist nichts
für mich. Jetzt, wo Siegfried im Urlaub war, hat sie immer für Siegfried was
anderes gekocht, wie für mich. Wahrscheinlich hat es Siegfried mitgebracht. Ich
will auch nichts davon, aber dann sollen sie es essen, wenn ich nicht dabei
bin, sonst kommt man sich so ausgeschlossen vor.“
Von seiner zukünftigen Frau sagte er: „Wir kennen uns schon
so lange vom Geschäft her und ich weiß, sie ist tüchtig und auch gut. Warum
soll ich eine ganz Fremde heiraten, die ich vielleicht erst einige Monate kenne
und wo ich nicht weiß, wie sie ist. Angebote habe ich nach Mama´s Tod genug
bekommen. Lotte würde sich sehr freuen, wenn sie mit Euch in ein gutes
Verhältnis käme. Sie hat mir auch gesagt, dass wir unser Testament zusammen in
der Weise machen, dass Ihr nach meinem Tod einen Teil meiner Sachen bekommt,
und nach Lottes Tod alles, denn sie hat keine Angehörigen mehr, außer ihrer Schwester,
die sich aber um die Mutter nicht gekümmert hat, und mit der sie sich deshalb
nicht gut steht.“
Ich habe Papa ja nun wieder gesehen, und habe mir ein
besseres Bild von ihm machen können, als nach den Briefen. Er ist noch voller
Lebenslust, und auf die trüben Gedanken kommt er, wie er selber sagt, nur, wenn
er so alleine sitzen muss. Soviel ich sehe, bleibt er doch nicht allein, und da
ist es wohl besser, er heiratet, als
wenn er evtl. so mit jemandem rumziehen würde. Das wäre mir erst recht schlimm.
Aus seinen Reden habe ich gemerkt, dass er sich von der alten Frau nichts
reinreden lässt, sondern dass er da bestimmt. Ich hoffe, dass sich das
Verhältnis zwischen uns allen nun wieder besser gestaltet.
Zu Papa haben sie im Haus schon gesagt, er wäre ja noch so
voller Lebenslust, er solle mir was davon abgeben, ich sei immer so ruhig und
würde immer zuhause sitzen und fast nie fortgehen. Da hat mich Papa in Schutz
genommen und hat zu Frau Leimenstoll gesagt, er würde eben sehr an Dir hängen,
und hätte deshalb keine Lust, allein fortzugehen. Überhaupt war Papa sehr milde
in seinem Urteil diesmal. Auch Deinen Vater hat er ja gelobt, was umgekehrt
nicht ganz so gewesen ist. Vater sagte mal, Papa wäre so anmaßend, er würde
sich ohne weiteres von dem Cognac eingießen, den ich auf den Tisch gestellt
habe und würde so über andere bestimmen. Da hätte er mehr Takt und wüsste, was
sich gehört. Da hättest Du gestern mal dabei sein müssen. Dein Vater war
nochmal hier und wollte ade sagen. Er musste nun sowieso in die Stadt, und da
hat ihn Papa soweit gebracht, dass er mit dem Omnibus fuhr. Wenn Papa, wie es
nun seine Art ist, mal laut geredet hat, ist Vater bald in ein Mauseloch
gekrochen und hat immer „psst“ gesagt. Die Kinder hätten auch am liebsten
nichts sagen sollen. Aber das machen doch alle so, da ist doch nichts dabei. Da
hat man gemerkt, dass Vater das Omnibusfahren nicht gewöhnt ist, denn er läuft
doch noch alles. Putzig ist es mir immer vorgekommen, wenn sie Paul und Adolf
zueinander gesagt haben.
Gestern ist nun Papa wieder weggefahren. Er hat sich immer
wieder bedankt und gesagt, so schön hätte er sich den Urlaub nicht gedacht und
er danke mir immer wieder. Mich freut es ja auch, wenn ich es jemand recht
gemütlich und froh machen kann.
Heute Morgen habe ich mit Vater für mich noch 2 Zentner und
für ihn 2 Zentner Kartoffeln geholt. Wir haben nun beide die Hälfte da. Die
anderen werden später zugeteilt. Vielleicht in einigen Wochen. Hoffentlich ist
es da noch nicht kalt.
Nun habe ich noch eine Frage: Helga quält mich schon immer
damit. Sie möchte auch die Haare kurz geschnitten haben. Was sagst Du dazu?
Nun lass mich schließen und sei recht herzlich gegrüßt und
geküsst von Deiner A
nnie.