Mittwoch, 31. August 2016

Brief 212 vom 31.8./1.9.1941


Mein lieber Ernst!                                                                    Konstanz, den 31.8.41                                                            

Da Dir Helga heute einen Brief geschrieben hat, möchte Dir Jörg auch von der Schule erzählen. Da er nun doch noch nicht schreiben kann, will ich alles, was er mir sagt Dir schreiben, also paß auf: 
Liebes Vaterle.
Ich habe eine Zuckertüte am ersten Tag wo ich in die Schule gekommen bin gekriegt, da war eine schöne Mietzekatze drin und dann Lebkuchen und dann Gebäck und Bonbons. Und dann habe ich vom Großvaterle noch eine Schnecke und ein Hörnle gekriegt. Am ersten Tag sind wir in die Schule gegangen, da haben wir uns auf die Bänke setzen müssen und dann hat uns die Lehrerin gesagt, wann wir in die Schule kommen müssen. Am zweiten Tag sind die Leute mit den Kindern in die Schule gegangen, aber ich bin alleine gegangen, ich bin doch kein kleines Kind. Da bin ich in unsere Klasse gegangen und die Lehrerin war immer ganz gut und dann haben wir nix aufgehabt und dann haben wir nix lernen müssen, weil so viele Kinder zu spät gekommen sind. Dann haben wir Klosettpause gehabt und dann habe ich gerade aufs Klosett müssen, wo Klosettpause war. Der neben mir gesessen ist, mit dem habe ich mich anfassen müssen und dann haben wir hinten hingehen müssen, damit wir eine Reihe machen und dann hat uns die Lehrerin gesagt, daß wir ein bißchen leise laufen sollen, weil der Lehrer Ege und der Leiber da waren, sonst täten sie rauskommen und schimpfen . Und dann sind wir in den Gang naus. Und dann haben wir lange auf dem Gang warten müssen, bis wir aufs Klosett gekommen sind und haben uns immer an der Hand halten müssen. Da waren die Klosetts ganz naß und niedrig waren sie. Da hat die Lehrerin gesagt, daß wir warten sollen, bis die anderen raus kommen und dann sollen wir rein gehen. Und dann, wo die Kinder vorgegangen sind, sich wieder in die Reihe aufstellen, ist eine Frau gekommen und da ist unsere Lehrerin hingegangen und hat mit ihr gesprochen. Dann bin ich auf dem Klosett gewesen, da hat der Bub schon im Gang auf mich gewartet, der bei mir sitzt. Dann bin ich schnell vorgerannt und habe ihr festgehalten bis wir wieder auf unseren Platz gegangen sind. Dann haben wir uns hinsetzen müssen. Und dann hat sie uns gesagt, wir hätten nix lernen können, weil immer so viel zu spät gekommen sind. Sie tät bös werden, wenn so viele immer zu spät kämen. Sie hat uns auch aufgerufen, wie wir heißen. Sie hat gesagt, daß wir am Montag lernen müßten. Dann haben wir erst die Tafel raufholen müssen, dann die Griffelschachtel und dann haben wir wieder alles einpacken müssen und dann, wo wir raus sind, haben wir uns wieder aufstellen müssen. Wo wir aufgestellt gewesen sind, habe ich den Bub neben mir gefragt, wo er wohnt, ob er nicht in der Wollmatingerstraße wohnt, aber da wohnt er nicht. Und dann haben wir uns wieder anfassen müssen und haben raus laufen müssen in den Gang und dann habe ich mich fest gefreut, daß ich hab raus können. Und da drin war`s fest heiß. Dann bin ich wieder heim über den Platz, der vor der Schule ist, da ist ein Weg über die wiese, da bin ich drüber gelaufen. Der Walter Leimenstoll, der bei uns wohnt, hat mich beim Frieden abgeholt und hat mir dann ein Stück den Schulranzen getragen, weil er mit mir spielen hat wollen. Gestern haben wir keine  Schule gehabt. Samstag  haben wir  frei, erst am Montag wieder.
Viele Grüße und Küsse von Deinem Jörg. 
Ist der Brief von Jörg nicht lang geworden? So viel hatte er mir am ersten Tag auch zu erzählen. Das sind ja nun alles neue Eindrücke, die er erst verarbeiten muß. Am ersten Tag, wo wir mit ihm zur Schule gehen mußten und wo er auch die Zuckertüte bekommen hat, war er von allem so gepackt, daß er nicht einmal gemerkt hat, daß ein Bub neben ihm gesessen ist. Als wir nämlich fragten, wie ihm denn sein Nachbar gefallen hat, sagte er ganz erstaunt, neben mir hat doch niemand gesessen, ich war doch ganz allein auf der Bank. Das hatte ich ganz vergessen zu schreiben, daß er von Frau Nußbaumer zum Schulanfang auch etwas Keks und einen Blumenstrauß bekommen hat.
Die kommende Woche nimmt Vater noch seinen Urlaub und morgen über 8 Tage fängt er wieder mit schaffen an. Sie haben ihm beim Stromeyer versprochen, sie wollen ihm etwas leichtere Arbeit geben, damit er sich nicht überanstrengt. Ich denke aber, sie werden nicht lange daran denken. Aussehen tut Vater wieder gut.
Ich ruhe mich heute wieder ein bißchen aus. Es sieht sowieso nicht so gut draußen aus. Zeitweise ist Sonnenschein und zeitweise regnet es wieder.
Heute ist mein Brief ziemlich kurz geworden, aber dafür hast du ja noch die Briefe von den Kindern. Da nimmst Du schon einmal mit einem kürzeren Brief vorlieb.
Sei recht herzlich gegrüßt und geküßt, Du mein liebster Schatz, von Deiner Annie.


 Mein lieber Mann!                                                       Konstanz, 1.September 1941

Du hast mir heute mit Deinem lieben Brief vom 27.8. zu unserem Hochzeitstag eine ganz große Freude gemacht. Mit welch lieben Worten hast Du dieses Tages gedacht und ich fühle mich direkt beschämt, daß ich fast nichts zu diesem Tag geschrieben habe. Aber Du weißt ja, daß es mir nicht so gegeben ist, schriftlich meinem Empfinden Ausdruck zu verleihen und ich denke, daß Du auch so weißt, daß ich Dich von ganzem Herzen lieb habe und stets an Dich denke. Es wäre wirklich schön gewesen, wenn wir heute hätten zusammen sein können, aber es ist ja jetzt vielen nicht vergönnt, Feste zusammen zu verleben und so wollen wir dankbar sein, daß wir noch alle gesund sind. Wenn wir jetzt Aussicht haben, daß Du bald Deinen Urlaub bekommst, so ist das ja auch schon ein Glück.
Ich habe in den letzten Tagen besonders oft an die vergangenen 10 Jahre gedacht und ich habe mir immer wieder sagen müssen, daß wir doch recht daran getan haben, früh zu heiraten. Wenn wir uns auch oft durchbeißen mußten, da wir beide nicht unzufrieden waren, hat es uns nichts geschadet. Wir haben das Einteilen gelernt und empfunden es jetzt mit doppelter Freude, daß es jetzt nicht mehr ganz knapp zugeht. Auf fremde Hilfe haben wir uns noch niemals verlassen und so sind wir jetzt auch niemand etwas schuldig. Das macht mich besonders froh.
Daß ich meine Pflicht zu hause tue, ist ja selbstverständlich. Ich müßte mich ja sonst schämen. Soweit ich körperlich dazu in der Lage bin, macht mir die Arbeit auch Freude. Ich würde manchmal gern noch mehr schaffen, denn ich tue es gern, aber ich muß eben zusehen, daß ich nicht wieder krank werde, wenn ich mir auch manchmal dabei wie ein halber Faulpelz vorkomme.
Durch die Kinder habe ich schon viel Freude gehabt. Natürlich gibt es auch Sorgen, aber die Kinder sind uns ja nicht nur zur Freude gegeben, sondern damit wir sie zu ordentlichen Menschen erziehen. Abwechslung habe ich ja durch die Kinder auch viel und langweilig wird es den ganzen Tag nicht.
Du fehlst mir ja sehr und wo richtig mit ganzem Herzen werde ich das Freuen wohl erst wieder lernen, wenn Du wieder zuhause bist und der Krieg zu Ende ist. Aber wir wollen nicht undankbar sein, denn Not haben wir in diesem Krieg noch keine kennen gelernt, man kann sich gar nicht oft genug vorstellen, wie es wohl bei uns aussehen würde, wenn unsere Feinde ins Land gekommen wären.
Auch ich hoffe, daß wir noch recht lange Jahre zusammen verleben dürfen. Das ist mein großer Wunsch.
Vorhin brachte mir Helga zum Hochzeitstag ein duftendes Veilchensträußchen. Eigentlich wollten sie mir auch noch etwas schenken, aber ich habe ihnen das ausgeredet, denn ich habe ja schließlich nicht allein Hochzeitstag und Du bist ja nicht da.
Auf das Geschenk von Dir freue ich mich sehr, denn Deine Geschenke haben mich noch nie enttäuscht. Notwendig wäre es ja nicht gewesen, denn ich habe mich schon über Deinen lieben Brief so sehr gefreut. Ich hoffe, daß ich Dir recht bald auch mündlich danken kann für alles Liebe.
Heute bekam ich auch noch Deinen lieben Brief vom 28.8.
Die Kinder haben wirklich viel neue Eindrücke in Leipzig gesammelt und sie brennen darauf, Dir alles zu erzählen, wenn Du auf Urlaub kommst. Das ist ja alles so wichtig, daß Du es unbedingt wissen mußt, vor allem vom Zoo. Das ist ihnen mit das wichtigste.
Der mir von Dir gesandte Zeitungsartikel hat mich sehr interessiert. Es ist gut, daß so strenge Maßnahmen getroffen werden, denn sonst wäre diesem Pack der deutsche Soldat ja Freiwild. Vielleicht kommen sie so eher zur Überlegung.
Über solche Anranzer, wie Du sie mir wegen des Ahnenpasses geschickt hast, bin ich ganz froh. Ich hätte ja das alles nicht machen können, wenn Du nicht so viel Vorarbeit geleistet hättest. Die Ahnenliste, die du aufgestellt hast, hat mir viel geholfen. Von ihr habe ich erst abgeschrieben, dann habe ich die Unterlagen vorgeholt und die Angaben ergänzt. Ohne die Liste, in der ja die Reihenfolge schon festgelegt ist, hätte ich es bestimmt nicht geschafft, denn mir hat schon so hinterher der Kopf gebrummt vor lauter Namen, Nummern und Daten. Du glaubst gar nicht, wie es mich freut, daß es Dir recht ist, daß ich den Paß aufgestellt habe, Du lieber, lieber Kerl. Du siehst aber wieder, überflüssig bist Du nie und nirgends.
Laufen kann Vater wieder soweit. Natürlich rennt er nicht mehr so wie früher. Er muß aber immer noch das Bein etwas einbinden und außerdem bekommt er jetzt eine Einlage.
Vater hat jetzt vorläufig genug zu rauchen. Er bekommt ja auch immer von Kurt noch etwas. Siegfried bringt zwar auch Papa manchmal etwas mit, aber Du kannst Deinem Namen neuen Glanz verleihen, wenn Du ihm auch etwas schickst. Wenn Du auch noch ein paar Zigarren für Paul besorgen könntest, wäre es mir recht. Ich möchte mich doch gern für die Geschenke von Alice revanchieren.
Übrigens lobt und rühmt Papa seinen Schwiegersohn seine Tochter und Enkel überall. Mit wem ich in Leipzig in Berührung gekommen bin, die kannten uns alle schon und sagten: „Ihr Vater hat nämlich schon viel von Ihnen erzählt, Ihren Mann lobt er auch immer so.“ Wir sind also auch in Leipzig keine Unbekannten.
Das Päckchen mit den Bonbons ist noch nicht angekommen. Ich denke aber, daß es bald kommen wird. Wenn es nur zum Geburtstag rechtzeitig da ist.
Zum Schluß mußt Du doch in Deinem Brief noch spotten, oh, Du schlimmer Mann. Als ob mir je ein Brief zu lang wäre.
Nun will ich noch von heute berichte. Eigentlich wollte ich heute waschen, aber Frau Büsing hatte gestern vergessen, mir den Schlüssel zu geben. Sie hat sich heute sogar deshalb bei mir entschuldigt. Nun habe ich das waschen auf morgen verschoben und das war gut so, denn heute Vormittag kamen die 15 Ztr. Brikett, die ich auch noch schichten mußte. Außerdem bekam ich noch 5 Pfund Zwetschgen, die ich sterilisiert habe. Da ist der Tag auch so vergangen. Heute Abend habe ich mir zur Feier des Tages noch eine Tafel Schokolade hervorgeholt. Da habe ich vorhin mit essen angefangen.
Eben kam Vater. Er sagte mir, daß er heute an Dich geschrieben hat. Wegen  der restlichen 3,-Mk von den Schuhen sagte er, daß Du sie behalten sollst, denn Du würdest sowieso noch etwas zum Geburtstag bekommen.
Sei nun für heute  recht herzlich gegrüßt und geküßt von Deiner Annie.


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